Dass Literatur einen besonderen Teil der Denkprozesse beansprucht, war uns bisher bekannt. Aber wie die Kunstwerke wahrgenommen werden, und welche Prozesse im Hintergrund des Bewusstseins ablaufen, interessiert neuerdings die Forschung. Dr. Brigitte Rath hat sich die Aufgabe gestellt, diesen Ablauf zu klären.
An einem sonnigen Märztag war der Konferenzsaal der Fakultät für Geisteswissenschaften mit neugierigen Germanistinnen und Germanisten gefüllt. Nachdem das Problem mit den zu wenigen Stühlen gelöst worden war, begrüßte Dr. Márta Horváth die Anwesenden und stellte Frau Dr. Brigitte Rath vor.
Frau Rath arbeitet an der Freien Universität Berlin und forscht vor allem im Bereich der Erzähltheorie. Ihr Buch über Narratives Verstehen erschien 2011 und behandelt die narrativen Schemata. Am 9. und 10. März 2015 besuchte sie die Universität Szeged zum zweiten Mal und hielt zu ihrem Forschungsthema sogar Veranstaltungen. Ihr Vortrag am ersten Tag handelte über die psychologischen Aspekte der Schematheorie.
Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist, dass verschiedene Arten von Geschichten (Comics, Romane, Hörspiele, Filme, usw.) in der gleichen Weise wahrgenommen werden, weil dabei die gleichen Bereiche des Gehirns beansprucht werden. Es ist egal, in welcher Form eine Geschichte vermittelt wird, die entsprechenden Schemata werden automatisch aktiviert. Also die Narrativität ist sozusagen eine Form der Verstehensprozesse, die uns intuitiv helfen, die Erzählungen wahrzunehmen.
Die ersten Forschungen über Schemata wurden in der Psychologie geführt. Damals haben sie darunter nicht spezifisch die Narrativität geforscht, sondern den universellen Prozess des Denkens, womit die wahrnehmbare Welt in Schemata geteilt wird, und damit das Gehirn die Informationen wirksamer, schneller und effizienter bearbeiten kann. Anders gesagt, kann dieser Prozess als Heuristik betrachtet werden. Meistens sind nicht alle notwendigen Informationen verfügbar, trotzdem ist das Verstehen vollständig.
Und das ist keineswegs ein passiver Vorgang. Die Schemata beinhalten nur die typischen Situationen von allem Möglichen, was geschehen kann, und dieser Kern dient als Leitfaden des Verstehens, was mit den anderen vorhandenen Informationen ergänzt wird. Diese Rekonstruktion der bearbeiteten Situation oder Geschichte hat in dieser Hinsicht zwei Richtungen. Der top-down Prozess heißt, dass die Geschichte mit Hilfe von Schemata ergänzt wird. Das Beispiel dafür von Frau Rath war, dass als sie ihre Reise nach Ungarn erwähnt hat, haben viele an eine Flugreise gedacht, was allerdings nicht der Fall war. Das Schema, dass solche Entfernungen meistens mit dem Flugzeug zurückgelegt werden, wurde sofort aktiv und die Geschichte damit ergänzt. Die andere Methode zum Ergänzen ist der bottom-up Prozess, wobei sich einzelne Teile einer Geschichte zu einer größeren und allgemeinen Geschichte zusammenstellen. Diese zwei Methoden schließen sich nicht aus und werden fast immer zusammen verwendet.
All diese Strategien ermöglichen dem menschlichen Denken, dass Informationen blitzschnell bearbeitet werden. Auch wenn dieser Vorgang nicht fehlerfrei ist, ist er trotzdem so effektiv, dass künstliche Intelligenz nicht mal annähernd so schnell und akkurat ist. Wie die Neuronen im Gehirn es ermöglichen, solche Geschwindigkeit zu erreichen, ist eine der größten Forschungsfelder der Neurologie. Bislang können solche Experimente für Modellierung des Denkens nur Teilerfolge in abgegrenzten Bereichen aufweisen, weil die Aufgabe so unheimlich und überwindbar komplex scheint.
Es gibt noch eine andere Technik, die in den Gedankenprozessen eingesetzt wird, was uns hilft, auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die Gestalttheorie, die zuerst Anfang des 20. Jahrhundert als eine neue psychologische Richtung erschienen ist, beschreibt die Fähigkeit des Menschen ein strukturiertes Muster von dem Hintergrund zu unterscheiden.
Diese alltäglich benutzten hochwirksamen Strategien bestimmen auch das narrative Verstehen. Wichtige Merkmale sind, dass es medienübergreifend, aber nicht medienunabhängig ist. Das heißt, dass es egal ist, ob ein Flugzeug – das Beispiel von Frau Rath zu benutzen – gezeigt, erwähnt oder sein Geräusch gespielt wird, es werden die gleichen Schemata aktiviert.
Schemata leiten Wahrnehmungsprozesse, Wissenseinheiten werden mit Variablen vervollständigt, und am Ende werden einzelne Story-Frames für verschiedene Arten von Geschichten als Ganzes wahrgenommen.
Nach dieser Darstellung der Aspekte der Schematheorie sahen die Anwesenden mit großer Erwartung dem nächsten Treffen mit Frau Rath entgegen. Dazu kam es am nächsten Tag: Am 10. März fand ein „Workshop” statt, an dem Hugo von Hofmannsthals „Ein Brief” behandelt wurde. Frau Rath machte uns in den zwei Veranstaltungen mit einer neuen und frischen Art, literarische Texte zu analysieren, bekannt und machte uns wieder auf den unglaublich vielfältigen Hintergrund des menschlichen Denkens aufmerksam.
/Kálmán Bittay/