Glavinic-Code

Autoren: Zsuzsanna Éva Fetter, Helga Sebők

Zeitung: 2014/2

Rubriken: Freizeit, Germanistik, Kultur

Gelesen und verfilmt

In der angenehmen Atmosphäre des Grand Cafés hatten wir auch heuer (16. Oktober 2014) die Möglichkeit, im Rahmen der Veranstaltung Ungarn liest Österreich, an einem Literaturabend teilzunehmen. Zwischen den zwei Filmen Wie man leben soll und Der Kameramörder konnten die Anwesenden eine spannende Unterhaltung zwischen Dr. habil. Attila Bombitz und Dr. habil. Imre Kurdi erleben. Der Literaturabend trug den Titel Glavinic-Code, welcher  auf den bekannten österreichischen Schriftsteller Thomas Glavinic verweist. Während des Abends standen dementsprechend hauptsächlich die zwei von Herrn Kurdi übersetzten Glavinic-Romane im Mittelpunkt. Herr Bombitz, der Leiter des Lehrstuhls für Österreichische Literatur und Kultur an der Universität Szeged, stellte Herrn Kurdi vor, der als Dozent am Lehrstuhl für Deutsche Literaturwissenschaft an der ELTE arbeitet und mehrere bekannte Werke aus dem Deutschen ins Ungarische übersetzt hat, darunter auch Romane von Thomas Glavinic: Der Kameramörder (A kamerás gyilkos) und Das Leben der Wünsche (A vágyak élete).

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Imre Kurdi und Attila Bombitz im Gespräch

Herr Bombitz richtete die erste und vielleicht grundlegendste Frage an Herrn Kurdi: Wer ist überhaupt Glavinic? Aus Herrn Kurdis Antwort  und der folgenden Unterhaltung konnte man erfahren, dass Glavinic einer der spannendsten und besten Schriftsteller der modernen österreichischen Literatur ist. Er ist auf dem Buchmarkt fast immer präsent, und das bewusst. Etwa alle zwei Jahre kommen  neue Romane von ihm in den Buchhandel. Glavinic kann immer etwas Neues bieten, seine Romane haben dennoch etwas gemeinsam: Sie konzentrieren sich auf den – oft schon banalen – Alltag, auf das Jetzt.  Bedeutenden zeitgenössischen österreichischen Schriftstellern wie Wolf Haas, Daniel Kehlmann, Arno Geiger ähnlich, versteht auch Glavinic seinen Beruf. Die Romane dieser Autoren sind durchdacht aufgebaut, jeder kleine, noch so banale Verweis kann im Endeffekt bedeutend sein, damit lassen sie diverse Deutungsmöglichkeiten offen und sind fähig, eine größere Bandbreite von Lesern anzusprechen.

Herr Kurdi wollte als erste Übersetzung von Thomas Glavinic dessen Hauptwerk Die Arbeit der Nacht bearbeiten, aber der Europa-Verlag ließ es nicht zu. Der Grund war, dass es sich nicht als Erstübersetzung eines Autors eignet, denn dieser Roman mit nur einem, einsamen Protagonisten hat eine deprimierende Stimmung  – etwas, das sich auf dem Buchmarkt nicht gut verkaufen lässt. So wandte er sich  dem Roman Das Leben der Wünsche zu. Die Grundsituation des Romans ist, dass der Protagonist Jonas ein alltägliches Leben führt: Er ist Vater von zwei Kindern, Ehemann und Liebhaber und hat eines Tages beim Teufel drei Wünsche frei.  Er wünscht sich, dass sich alle seine Wünsche erfüllen; der Teufel warnt ihn, dass es nicht darum geht, was er will, sondern was er sich wünscht, aber Jonas steht zu seiner Entscheidung. Obwohl schon der Anfang märchenhafte Elemente in sich trägt, ist es keine leichte Lektüre. Dieser Roman kriecht unter die Haut; Imre Kurdi meint, dass der Leser nach dem Lesen des Romans anfängt, sich in den Alltagssituationen unwohl zu fühlen. Herr Bombitz hob hervor, dass die Unruhe des Buches mit zwei Begriffen zu beschreiben ist: Kapitalismus und Spiritualismus; diese Thematik und die Vermischung der zwei Begriffe zeigt eine internationale Tendenz, an der auch Glavinic teilnimmt.

Interessant ist, dass die ungarische Fassung von Das Leben der Wünsche eine Ausgabe null hatte, mit einem Godzilla-Wecker auf dem Cover, welcher auch im Roman an einer Stelle erscheint; aber nach kurzer Zeit wurde sie wieder von den Regalen der Buchläden eingezogen und mit einem neuen Cover erneut herausgegeben.

Glavinic arbeitet mit einem starken Medienbewusstsein, er reflektiert oft über die Medien. Das können die Leser auch in dem Roman Der Kameramörder sehen, der  2001 entstand und hauptsächlich mit den Medien TV und Teletext arbeitet. Das Problem mit dieser Medienreflexion ist, dass sie schnell veraltet. Die Verfilmung von 2010 unterscheidet sich einerseits wegen der Medienbenutzung stark von dem Buch, andererseits ist schon die Erzählsituation des Buches eigen- und einzigartig. Der Erzähler ist ein Psychopath, was schon an sich eine radikale Grundlage für ein Buch ist, dazu spricht er noch eine primitive Sprache, welche in der realen Welt nicht benutzt wird. Herr Kurdi erklärte an dieser Stelle, dass diese spezielle Sprache für ihn viele Fragen bei der Übersetzung stellte. Er musste im Ungarischen einen praktikabeln Kompromiss zwischen der literarischen und der primitiven Sprache finden. Der Roman wurde 2002 mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Herr Bombitz und Herr Kurdi waren sich einig , dass Der Kameramörder ein hervorragendes Buch ist, jedoch nicht als Kriminalroman.

Im Weiteren würde sich Herr Kurdi gern näher mit dem Buch Das bin doch ich von Glavinic beschäftigen und es ins Ungarische übersetzen.Zusätzlich zur Unterhaltung von Herrn Bombitz und Herrn Kurdi konnte sich das Publikum zwei Filmadaptionen von Glavinic-Büchern ansehen. Der erste Film Wie man leben soll ist ein Film des österreichischen Regisseurs David Schalko. Er wurde im Frühjahr 2010 gedreht, als Vorlage zum Film dient der 2004 erschienene gleichnamige Roman von Thomas Glavinic.

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Der Film beschäftigt sich mit sehr aktuellen Themen. Diese Komödie stellt die heutige Gesellschaft vor und zeigt, wie sich die unterschiedlichen Generationen verhalten.

Wenn man jung ist und ein Mann, dann kann es sein, dass man ein „Sitzer“ ist. Zumindest, wenn man zu einer Generation gehört, die nicht so recht weiß, wie man nun eigentlich leben soll. Woher und von wem sollte man das auch wissen, wenn man, wie unser Protagonist Charlie Kolostrum, Teil einer überspannten Familie ist und eine Mutter hat, deren Neigung zum Alkohol und zu promiskuitivem Sex schon früh den Vater verjagte. Wenn man also, kurz gesagt, sich selbst überlassen und nur mit der eigenen Person beschäftigt ist, dann braucht man auch eigene Lebensregeln, und zwar in so ziemlich jeder Hinsicht.

Der Film scheint zuerst zu zeigen, wie man NICHT leben soll. Charlie versucht sich allein in der Welt zurechtzufinden, aber er scheitert an manchen Stellen. Die Liebe spielt in seinem Leben eine wichtige Rolle, er denkt, man braucht eine Freundin, um überhaupt zur Geltung zu kommen. Auch den Intellekt sollte man nicht unterschätzen. Unumgänglich ist außerdem die Frage der finanziellen Ressourcen, schließlich wird die schon sehr alte Tante, die einen immer so großzügig versorgt, nicht ewig leben. Mit dem Reifezeugnis in dern Hand wird es allerdings erst richtig kompliziert, vor allem deshalb, weil man noch immer die meiste Zeit sitzt: als Student der Kunstgeschichte unter lauter schönen Frauen, als Taxifahrer im Auto, um Geld zu verdienen, vor dem Computer des Mitbewohners, um zu spielen, und am Küchentisch der WG, um zu essen.Der katastrophale Lebensweg von Charlie trägt dennoch Früchte, denn am Ende wird er ein Star.

Während des Filmes konnten wir auch erahnen, dass es eine Buchadaptation ist, indem an manchen Stellen so genannte Tipps auf der Filmleinwand erscheinen; auf diese Weise sollten die Zuschauer nicht nur zusehen, sondern auch mitlesen.

Noch etwas Interessantes: Imre Kurdi verwies darauf, dass Glavinic in einer Szene dieses Filmes erscheint; es gibt auch eine Parallele zwischen dem Leben von Glavinic und Charlie Kolustrum, denn Glavinic war auch Taxifahrer.

Als zweiten Film haben wir  den Kameramörder angesehen. Unter der Regie von Robert Adrian Pejo wurde der Roman in einer österreichisch-schweizer-ungarischen Koproduktion verfilmt. Aus den vier Hauptrollen wird eine von der ungarischen Schauspielerin Dorka Gryllus gespielt.

Der Film beginnt damit, dass zwei befreundete Paare sich treffen, um das Osterwochenende miteinander zu verbringen. Alles wäre sehr schön und lustig, aber die Nachricht eines Mordes, der in der Nähe passiert ist, verändert alles. Ein Kameramann hat zwei Kinder gezwungen, von einem Baum zu springen und sich vor der Kamera umzubringen. Diverse Gefühle kommen zum Vorschein. Es ist sehr interessant, wie unterschiedlich die vier Personen diese schreckliche Tat bewerten und erleben. Einer zeigt keine Gefühle, er kann sich mit dem Leid der Opfer überhaupt nicht identifizieren. Die andere ist ängstlich und sehr emotional. Die Protagonisten werden immer aufgeregter und auch andere Gefühle treten in dieser Situation hervor, wie zum Beispiel Eifersucht. Der Film übt eine sehr starke Medienkritik. Die schockierende Tat wird zum Mittelpunkt der Medien und die beiden Paare wollen immer mehr darüber wissen. Trotzdem versuchen sie das Wochenende zu genießen, die vier Freunde pendeln zwischen Fernseher und Kartenspiel, Küche und Gesprächen hin und her. Einerseits angewidert, andererseits stets fasziniert und voller Lust an der Sensation kommentieren sie dabei die Handlungsweise der Medien.

Das Programm mit den Filmen und der Unterhaltung nahm einen ganzen Abend in Anspruch, aber jede Minute lohnte sich. Das zeigte auch, dass viele StudentInnen, DozentInnen und Interessenten der österreichischen Kultur teilnahmen. Während der Filme gab es eine allgemeine Spannung, und zwar im besten Sinne des Wortes; dazu kam noch die Unterhaltung zwischen Herrn Bombitz und Herrn Kurdi, die informativ und spannend war. Nach solch einem inhaltsreichen Programm konnte das Publikum das Grand Café nur mit einem guten Gefühl verlassen.

 

/Zsuzsanna Fetter, Helga Sebők/

Quellen der Bilder:

Helga Sebők

http://www.thomas-glavinic.de/