„Jeder schafft sich seine Engel selbst”

Autor: Gergő Kovács

Zeitung: 2013/2

Rubriken: Freizeit, Kultur

Über den Gedichtband von Ingo Cesaro

Der deutsche Dichter Ingo Cesaro hat Hunderte von Engelgedichten geschrieben. 2013 erschien eine Sammlung dieser Gedichte unter dem Titel „Aus dem Schatten der Engel”. Über das Thema hinaus sind auch die Übersetzungen in 21 Sprachen von Interesse, die im Buch ebenfalls zu finden sind.

Advent und Weihnachten, Engel sind überall zu sehen: Kein einziger Weihnachtsmarkt, keine Postkarte, keine Wintermusik ist ohne Engel vorstellbar.  Die Engel sind im Leben eines Menschen von Anfang an anwesend. Das behauptet auch Ingo Cesaro und ist der Meinung – wie es im Titel dieses Artikels steht –, dass diese Engel selbst geschaffen werden.

Warum aber der Schatten? Wie kann er in einem Satz mit den Engeln erwähnt werden? Nach Cesaro sind die Engel nicht die Vertreter des totalen Guten, sie sind nicht eindeutig positiv und schneeweiß. Idealisierte Engel kann der Leser vergessen und dafür liefert auch schon die Bibel Anhaltspunkte.

Von diesem Motiv, diesem Topos kann man nicht sprechen, ohne den geschichtlichen Hintergrund zu prüfen. Im jüdisch-christlichen Kulturkreis tauchen die Engel zuerst in der Bibel auf, diese göttlichen Geschöpfe sind aber auch aus anderen monotheistischen Religionen wie dem Islam bekannt. Sie waren grundsätzlich die Diener Gottes, später wurde aber eine Gruppe von ihnen „böse”, hierher gehört beispielsweise der berühmte, abtrünnige Luzifer, dessen Name „der Lichtbringer” bedeutet. Die Engel und ihre vielfältigen Metaphern haben die Künstler und Künstlerinnen der vergangenen zweitausend Jahre immer berührt.

Das Gute und das Böse. Es gibt auch in Cesaros Gedichten verschiedene Engel: Manche sind nett, manche ironisch, die anderen aber auch oft politisch oder gar erotisch. Gedichte im Band legen dem Leser nahe, dass auch Racheengel und Schutzengel eine Rolle in unserem Leben spielen können. Was aber nach dem Lesen mancher Gedichte noch auffallen kann, ist die häufige Verbindung von Engeln mit Materialien wie Glas oder Stein, wodurch eine Art Synästhesie entsteht.

Die Texte bieten in formaler Hinsicht viele auffallende Merkmale. An erster Stelle soll die Interpunktion, besser gesagt die fehlende Interpunktion erwähnt werden. Die Gedichtanfänge werden kleingeschrieben (dadurch entsteht eine starke Verbindung mit dem Titel) und der Text endet mit einem Punkt. Was aber dazwischen auch alles geschehen mag, außer den Buchstaben gibt es dafür kein weiteres Zeichen. Diese fehlenden Kommas und die ineinander fließenden Sätze sind auf Anhieb schwer zu verstehen, die Gedanken sind aber eben deshalb freier ausgedrückt und die Interpretation genießt eine größere Freiheit. Was noch fehlt? Viele würden, da es sich um lyrische Werke handelt, sagen, es fehlen die Reime. Durch Reime werden die Sätze nicht unterbrochen, durch Strophen auch nur in bestimmten Fällen.

Die Gedichte zu betrachten und zu analysieren ist natürlich wichtig, die Übersetzungen machen aber das Gesamtwerk noch interessanter. In 21 verschiedene Sprachen wurden die Gedichte übersetzt, man kann also ein überaus buntes Bild bekommen. Die Übersetzungen folgen dem deutschen Text direkt, als Europäer findet man viel Spaß daran: Nicht so oft kann man Lyrik so kontrastiv erleben. Eine Übersetzung gehört aber nicht zu jedem Gedicht, und falls es eine gibt, kann es dann aber vom Türkischen über das Ungarische bis hin zum Spanischen reichen – Reihenfolge und Zahl der Übersetzungen ist oft unterschiedlich. Zum Glück dominiert das Englische nicht, Polnisch oder romanische Sprachen sind hier aber häufiger zu lesen.

Was die ungarischen Übersetzungen betrifft, sechs Gedichte wurden ins Ungarische übertragen, alle vom Leiter des Lehrstuhls für Deutsche Literaturwissenschaft, Herrn Dr. habil. Géza Horváth. Ohne Befangenheit kann man sagen, dass die Übersetzungen – verglichen auch mit den anderen Werken – sehr gut sind und sowohl inhaltlich als auch formal zu den Besten gehören.

Zurück zum Dichter. Ingo Cesaro, der übrigens an der Universität Szeged schon mehrmals Kurse zum „kreativen Schreiben” hielt, hat eine ganze Menge von Engelgedichten geschrieben, die bislang an unterschiedlichen Stellen veröffentlicht wurden. Er begann mit der „Engeldichtung” im Jahre 1986, nach der Katastrophe von Tschernobyl. Engel kamen darum ins Bild, weil nach diesem Greuel ein russischer Kollege Cesaro darauf aufmerksam gemacht hatte, dass diese Ereignisse in der Bibel beschrieben sind: „der dritte Engel blies die Posaune: und es fiel ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel […] und der Name des Sterns heißt Wermut”. (Offenbarung 8:10-11.)

Die Gedichte wurden nach bestimmten Kriterien geordnet. Im Band herrscht ein strenges Zahlenprinzip mit starkem mystischem Charakter. Das Buch hat sieben Kapitel, diese heilige Zahl erinnert an die sieben Todsünden, aber auch an die sieben Kardinaltugenden. Die Zahl der Gedichte in den Kapiteln führt noch weiter. Das dritte Kapitel enthält beispielsweise 22 Gedichte, also 10 und 12. Auch dahinter stecken alt- und neutestamentarische Konnotationen: Es gibt zehn Gebote und zwölf Apostel. Und die Mystik hat kein Ende …

Schließlich, was ich für das Wichtigste halte: Taucht der Leser in diese Gedichtwelt ein, zählen nur die puren Wörter, seine Gefühle und diese ewige Unsicherheit, die die Gedichte – ergänzt durch ein kleines Mysterium – umringt. Alles, was oben erwähnt wurde, braucht der Leser nicht immer vor Augen zu halten. Denn jeder schafft sich seine Engel selbst.

 

/Gergő Kovács/

 

Quelle des Beitragsbildes: www.booklooker.de