Die siebte Kunst und die perversen Österreicher

Autor: Gabriella Mihácsi

Zeitung: 2013/2

Rubriken: Freizeit, Gesellschaft, Kultur

„Wer echte Horrorfilme sehen möchte, muss die Filme von Ulrich Seidl kennen lernen. Obwohl in diesen Filmen kein Blut fließt und niemand ermordet wird, gibt es nichts Brutaleres als menschliche Beziehungen, sagt der österreichische Regisseur.“ So schreibt Dóra Gyárfás (Journalistin) in ihrem Artikel auf origo.hu[1]. Ulrich Seidl war in diesem Jahr Gast des Filmfestivals Sehenswert/Szemrevaló (veranst. vom Goethe-Institut Budapest). Mitgebracht hat er seinen neuen Film Paradies: Hoffnung.

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Die Wichtigkeit der Filme in unserem modernen Leben muss man nicht mehr beteuern. Alle lieben Filme, Millionen besuchen jeden Tag Kinos, um sich zu entspannen, unterhalten zu lassen und Spaß zu haben. Aber wenn die Filme von Ulrich Seidl so anstrengend anzuschauen sind, warum sollte man es also überhaupt tun? Nach Herrn Seidl ist der Effekt des Filmes viel dauerhafter.
Man sagt, wenn ein Film Diskussion anregt und etwas in dir bewegen kann, dann kann ein solcher Film nicht so schlecht sein. Dies entspricht auch der Sichtweise Ulrich Seidls.
Na gut, habe ich gedacht, aber was ist, wenn ich zur Erkenntnis gelange, dass ich keine nackten, hässlichen und dicken „Sugar Mamas“* mit hageren einheimischen jungen Männern auf ihnen sehen möchte? Was ist, wenn ich es nicht sehen möchte, wie eine Frau mit einem mächtigen Kreuz masturbiert, oder wie ein 13-jähriges gedemütigtes Mädchen sich in den 50-jährigen Doktor eines  Diätcamps verliebt?

Dies sind solch peinliche, kompromittierende, unbequeme Tabus, auf die der Regisseur uns zwingt, den Blick zu richten, dass wir nicht nur die Einsamkeit der Figuren sehen, sondern eben auch das, was wir uns untereinander antun, was die Gesellschaft uns antut. In diesen Filmen sehen wir, so Seidl, in einen großen Spiegel: „Ich muss mal eines richtig stellen: Das sind keine Filme über schreckliche Menschen. Das sind Filme über uns. Viele wollen sich dem nicht ausliefern, weil sie Angst davor haben, sich selbst zu sehen. Das ist das ganze Problem. Meine Filme schauen halt hinter die geschönte Wirklichkeit. Sie zeigen, was man sieht, wenn man in den Spiegel schaut. Davon handeln die Filme. … Wenn man das unbequem findet, ich habe kein Problem damit.” (aus einem Interview mit der Berliner Morgenpost[2])

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Diese Filme handeln von Frauen und deren Verlangen nach Liebe; wie sie diese Erfüllungen suchen und was sie stattdessen finden. Hier findet sich auch die Gemeinsamkeit bei allen drei Filmen: alle drei Frauen wollen der Einsamkeit entrinnen.

Der erste Film der Trilogie, und vielleicht der provokativste, ist Paradies: Liebe, der auch in Cannes** aufgeführt wurde. Die 50-jährige Wienerin, Teresa reist in den Urlaub nach Kenia und trifft sich dort mit netten einheimischen Leuten, die hübsche Halsketten, Armbänder, allerlei Firlefanz, aber eben auch Liebe verkaufen. Paradies: Liebe handelt davon, wie die westliche Welt sich heute zu Afrika verhält, aber auch davon, wie man über Frauen, die Körper von Frauen und Schönheit denkt.
„Die Objektivität stattet das Foto mit einer solchen Glaubwürdigkeit aus, die man bei Gemälden vergebens sucht.“ schreibt André Bazin in seiner Studie Die Ontologie des Fotos. Dieses Zitat könnte man erwähnen, wenn man an die Werke von Ulrich Seidl denkt, in denen er (manchmal wortwörtlich) die nackte Realität darstellt.

Paradies: Glaube, der zweite Film der Trilogie, demonstriert ebenfalls mit kalter  naturistischer Sichtweise, ganz ohne die Möglichkeit zum Mitfühlen. In der Geschichte hat sich Anna Maria mit Leib und Seele in den Dienst Gottes gestellt. Die verblendete religiöse Anna Maria glaubt, dass Österreich wieder zum Katholizismus bekehrt werden kann und besucht mit einer Wanderstatue der Muttergottes unter ihren Achseln die Einwanderer von Wien. Seidl schockt die Zuschauer mit Übertreibungen, einer missgestalteten Gottliebe von Anna Maria. Sie und ihr querschnittsgelähmter Mann Nabil, ein Moslem, bekriegen sich über Religion und Macht und prügeln sich sogar.

Obwohl in Paradies: Hoffnung keine explizit pädophilen Szenen sind, ist auch dieser Film keine leichte Kost, nicht so einfach sich anzusehen und zu verstehen. Worum es geht, ist, dass die Charaktere des Filmes einander nicht verstehen können, die Annäherung zueinander fehlt, obwohl alle eine gemeinsame Sprache sprechen. Melanie, ein vollschlankes Mädchen, verbringt ihren Urlaub in einem Diätcamp mit dummen Trainern, die die Trainings mit dummen Methoden abhalten und sie bestrafen und demütigen. Ihrem Alltag entfliehen kann sie erst, als sie sich in den Arzt verliebt, der wiederum ihr Vater sein könnte. Dieser Film zeigt die endlose Einsamkeit von Melanie und das pessimistische, absurde Diätcamp macht eine starke Gesellschaftskritik deutlich.

Ulrich Seidl sagte einmal, dass die Kunst funktioniert, wenn sie im Aufnehmenden für Verwirrung sorgt.  André Bazin schrieb einmal, dass der Film heute über das Kennzeichen der „klassischen“ Kunst verfügt. Aber kann man die Werke von Seidl als klassische Kunst bezeichnen? Ist dies wirklich das Ziel der Kunst? Den Zuschauer vor den Kopf zu stoßen und ihm dadurch zu denken zu geben?

/Gabriella Mihácsi/

*: alte, reiche, europäische Sextouristinnen

**: Internationale Filmfestspiele von Cannes

Quellen:

http://www.morgenpost.de/kultur/berlinale/article113467640/Ulrich-Seidl-haelt-uns-mit-seinen-Filmen-einen-Spiegel-vor.html

http://www.origo.hu/filmklub/20131008-miert-van-ennyi-perverz-ausztriaban-ulrich-seidl-interju-paradicsom-trilogia-a-remeny.html

Bilderquellen:

http://static1.kleinezeitung.at/…/ulrich_Seidl_apa…