Abschlusskonferenz der Institutspartnerschaft zwischen dem Göttinger Deutschen Seminar und dem Szegediner Institut für Germanistik
Seit gut zwei Jahren ist die Forschungsgruppe für Kognitive Poetik unter der Führung unserer Dozentin Dr. Márta Horváth an der Philosophischen Fakultät der Szegeder Universität tätig. Angefangen mit der Konferenz „Universalien“ (Szeged 2012, organisiert von Dr. habil. Endre Hárs, Dr. Márta Horváth und Dr. Erzsébet Szabó), bereichert durch die Erscheinung des Bandes Kognitive Literaturwissenschaft (Helikon 2013/2, herausgegeben von Márta Horváth und Erzsébet Szabó) und mit der Initiative, eine Reihe von kognitiv-psychologischen Vorträgen an der Philologischen Fakultät Szeged zu organisieren, ist die aktive Präsenz und motivierte Tätigkeit der Forschungsgruppe nicht zu übersehen. Das Interesse der Mitglieder deckt eine große Vielfalt interdisziplinärer Ansätze in Randgebieten der Literaturwissenschaft, Psychologie, Medienwissenschaft und Evolutionsbiologie ab. Mit einer laufenden Vortragsreihe bezweckt die Forschungsgruppe die Studierenden auf diese neue Richtung der interdisziplinären Forschung neugierig zu machen.
Nach dem letzten offiziellen Auftreten der Forschungsgruppe am 11. Februar (GeMa berichtete1) folgte zwischen dem 3. und 5. September 2014 eine internationale Tagung in Göttingen, die die Abschlusskonferenz des Humboldt-Projekts „Die biologisch-kognitiven Grundlagen narrativer Motivierung” war. Frau Horváth organisierte die Tagung zusammen mit Dr. habil. Katja Mellmann aus Göttingen. Kurz nach dem erfolgreichen Abschluss der Konferenz hatte GeMa die Gelegenheit, mit Frau Horváth über ihre Erlebnisse zu sprechen.
Die Tagung gilt als Höhepunkt einer langwierigen Zusammenarbeit. Dabei ging es ganz konkret um einen bestimmten Aspekt der kognitionspsychologischen Fragestellung innerhalb der Literaturwissenschaft: die narrative Motivierung. Was hat Sie und Frau Mellmann motiviert, sich mit diesem Problembereich zu beschäftigen bzw. eine ganze Tagung im Sinne dessen zu organisieren?
Wir haben mit der Göttinger Projektleiterin ein Thema gesucht, das ein grundlegendes Thema der Narratologie ist – wir interessierten uns nämlich beide hauptsächlich für Erzähltexte –, und da ich damals zwei Projektanträge im Thema Kohärenzstiftung in Deutschland eingereicht habe, schien es auf der Hand zu liegen, dieses Thema gemeinsam zu bearbeiten. Der erzähltheoretische Begriff „Motivierung“ ist gut geeignet dazu, die Untersuchungen Richtung Leser zu öffnen, da selbst Matías Martínez, der den Begriff nach Clemens Lugowski in die moderne literaturwissenschaftliche Diskussion eingeführt hat, betont, dass die logische Beziehung zwischen zwei Ereignissen im Text oft nicht explizit beschrieben wird, sondern vom Leser hinzuimaginiert wird. Von diesem Konzept ausgehend, haben wir die Frage nach solchen kognitiven Mechanismen des Lesers gestellt, die eine wichtige Rolle in der Verarbeitung des Textes spielen. Anders gesagt, uns interessierte, wie im Kopf des Lesers beim Lesen des Textes überhaupt eine kohärente Geschichte zustande kommt. Da Frau Mellmann sich schon damals seit vielen Jahren mit Literaturpsychologie beschäftigte – sie hat ihre Dissertation über die emotionale Wirkung literarischer Texte geschrieben –hat sie für unsere Gruppe hier in Szeged viele Impulse die theoretischen Ansätze betreffend geben können.
Es ist tatsächlich eine der wichtigsten Kriterien einer guten Kooperation, dass zwei Personen aufeinandertreffen, die ähnliche Interessen haben und gut zusammenarbeiten können. Wie und wann haben Sie Frau Mellmann kennengelernt und wie kamen Sie zu der Idee ein gemeinsames Projekt zu organisieren?
Es ist eigentlich schon ziemlich lange her, dass ich Frau Mellmann kennen lernte, es geschah im Jahre 2008. Damals hat sich mein Interesse für die biologische Literaturwissenschaft herauskristallisiert, ich hatte nämlich die Intuition, dass es nicht stimmen kann, dass alles Diskurs ist und dass alles, was der moderne Mensch produziert, kulturabhängig ist – wichtige Thesen der damaligen Kulturwissenschaften. Ich dachte, und dabei spielte wahrscheinlich auch die Tatsache eine Rolle, dass mein Mann Biologe ist, dass Kultur irgendwo auch ihre biologischen Wurzel hat, die zu erforschen eine spannende Aufgabe ist. Ich suchte zuerst im Internet nach Literatur, so habe ich ein CfP von Frau Mellmann gefunden, in dem sie Vortragende für eine Konferenz eben im Forschungsthema „Biopoetik“ suchte. Ich schrieb ihr eine E-Mail, in der ich sie um Fachliteratur über die biologische Literaturwissenschaft bat. Wir fingen an miteinander Briefe zu wechseln, führten Gespräche über kognitive Ansätze und evolutionsbiologische Theorien ausserdem besuchte ich sie mehrmals in Göttingen im Rahmen des Erasmus teaching-mobility Programms. Während unseren Gesprächen und unter Mitwirkung von Professor Gerhard Lauer kamen wir zu der Idee, ein kognitiv-poetisches Projekt gemeinsam zu machen. Da ich vorher das Roman-Herzog-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung gewonnen habe und somit Humboldtianerin war, lag es auf der Hand einen Antrag bei der Humboldt-Stiftung einzureichen, das uns zu unserer großen Freude auch zugesagt wurde. So kam es zu unserer Institutpartnerschaft und zu dieser Tagung in Göttingen.
Der genaue Titel des bilateralen Humboldt-Projekts heißt: „Die biologisch-kognitiven Grundlagen narrativer Motivierung“. Könnten Sie uns bitte näher erläutern, inwieweit Literaturwissenschaftler mit biologisch-kognitiven Theorien arbeiten können?
Wenn ein Literaturwissenschaftler kognitionistisch arbeitet, heißt es immer, dass er ins Zentrum seiner Untersuchungen den Leser stellt, und danach fragt, wie der Leser den literarischen Text verarbeitet. Mit einem Wort betreibt er Rezeptionstheorie. Die Rezeptionstheorie hat eine lange Geschichte, aber auch die kognitive Rezeptionstheorie ist nicht sehr neu: schon in den 90-er Jahren wurden Aufsätze darüber geschrieben, welche Rolle kulturell erworbene Schemata und Scripts bei der Textverarbeitung spielen. Was in unserem Ansatz einigermaßen neuartig ist, dass wir uns eben nicht mit kulturell erworbenen Schemata beschäftigen wollten, sondern uns interessierten jene kognitive Mechanismen des Lesers, die angeboren sind und deshalb universal, oder fast-universal sind. Ein solcher Mechanismus ist z.B. das kausale Denken: Der Mensch denkt immer in kausalen Beziehungen, weil es seine Überlebenschancen vergrößert hat, da er sich nämlich durch Ursachenattribution auf zukünftige Ereignisse vorbereiten konnte. Die Ursachenzuschreibung spielt unseres Erachtens auch im Lesen von literarischen Erzähltexten eine wichtige Rolle: wenn zwei Ereignisse in einer Erzählung nacheinander folgen, dann neigen wir dazu, diese zwei Ereignisse auch kausal aufeinander zu beziehen und sie als Ursache und Wirkung verstehen, auch wenn es im Text so nicht steht. Da mehrere solche Mechanismen eine wichtige Rolle bei der Kohärenzstiftung spielen, hatten wir vor, diese einzeln und möglichst in Bezug auf konkrete literarische Erzähltexte zu untersuchen. Das heißt, biologisch ist hier als evolutionär zu verstehen.
Viele formulieren den Vorwurf dieser intzerdisziplinären Herangehensweise gegenüber, dass man sich oft mit den Ergebnissen solcher Disziplinenarbeitet, von denen man nichts versteht. Aber die meisten tun es nicht. Ich persönlich würde mich z.B. nicht auf ein Terrain wagen, wo ich mich gar nicht auskenne und die Richtigkeit der Thesen bzw. der Folgerungen nicht kontrollieren kann, wie zB. bei der Neurologie. Im Gegensatz dazu gehört meiner Meinung nach Psychologie zu unserer grundlegenden Ausbildung, ich jedenfalls studierte Psychologie zwei Jahre lang als Pflichtfach während meines Studiums. Mit diesen Grundlagen kann man dann einfach die entsprechenden Bücher aussuchen und lesen. Was wir also machen, ist eine Mischung von Literaturwissenschaft, Evolutionspsychologie und Kognitionspsychologie, alles gut zu verfolgen mit einer Grundausbildung für Lehramt-Studenten und mit starkem Interesse und viel Lesezeit.
Wir haben allerdings tatsächlich bemerkt, dass der Begriff „biologisch-kognitiv“ leicht missverständlich ist die Zuhörer etwas befremdet und solche Assoziationsfelder öffnet, die in eine falsche, von uns gar nicht gemeinte Richtung zeigen können. Deshalb überlegten wir diesen Titel in der Zukunft etwas umzuformulieren.
In ihrem Vortrag haben Sie sich mit der Funktion des Realitätseffektes beschäftigt. Könnten sie uns kurz erläutern, was wir genau darunter verstehen sollen?
In meinem Vortrag „Die Funktion des Realitätseffekts in der Motivierungsstruktur von Erzähltexten“ versuchte ich einen Schritt in eine Richtung zu tun, die ein Grundlagenproblem der kognitiven Rezeptionstheorie darstellt: dem Phänomen der Immersion nachzugehen. Unter Immersion soll man den mentalen Zustand des Lesers verstehen, wenn er so tief in die fiktive Welt des jeweiligen Erzähltextes eintaucht, dass er sich der Realität gar nicht mehr bewusst ist, sondern sich sozusagen in den Zeit-Raum der erzählten Welt transportiert und sich eventuell mit einer Figur dieser Welt (meistens der Hauptfigur) identifiziert. Meiner Meinung nach würde ein sehr inkohärenter Text diese Wirkung im Allgemeinen wahrscheinlich nicht hervorrufen können, als ein wichtiges Kriterium sehe ich also Kohärenz an. Ein anderes wichtiges Kriterium ist meines Erachtens, was man vielleicht am besten mit dem Begriff „Realitätseffekt“ beschreiben kann. In meiner Arbeit versuchte ich, den Begriff in ein rezeptionstheoretisches Konzept zu platzieren, und seine Rolle in der Motivierungsstruktur des Erzähltextes zu erarbeiten.
Sehr interessante Vorträge haben die Kollegen unseres Instituts, Endre Hárs und Erzsébet Szabó gehalten: Herr Hárs stellte uns die Raumnarratologie in Jókai Mórs „Bis zum Nordpol“ vor und Frau Szabó beschäftigte sich mit der kompositorischen Motivierung, also ob der Leser während seiner Lektüre die Autorintention wahrnimmt und verfolgt oder nicht.
Bei der Abschlusskonferenz nahmen ausschließlich deutsche bzw. ungarische Philologen teil, die Vorträge verliefen auf deutsch bzw. englisch. Wie bunt war aber die Auswahl der besprochenen Problembereiche? Welche Ansätze ergab die Interdisziplinarität der Tagung?
Die kognitive Literaturwissenschaft arbeitet interdisziplinär, und unsere Tagung wiederspiegelte diese Interdisziplinarität: unter den Vortragenden befanden sich neben Literaturwissenschaftler mehrere Psychologen und auch eine Ägyptologin. Lívia Ivaskó aus Szeged hielt einen entwicklungspsychologischen Vortrag über die Fähigkeit von Kindern, fiktionale Erzähltexte zu rezipieren bzw. zu produzieren. Es war sehr interessant zu erfahren, wie wichtig der Augenkontakt oder die Intonation beim Geschichtenerzählen für Kinder ist, dass sich also Kinder viel mehr nach diesem sog. ostensiven Kontext des Geschichtenerzählens orientieren, als nach der Bedeutung der Wörter. Annekathrin Schacht, eine Kollegin aus Göttingen bewies in ihrem Vortrag welche Textstellen aus den Werken „Der Schimmelreiter“ bzw. „Effie Briest“ spannungserzeugend auf den Leser wirken und warum.
Wenn wir aber über Universalien sprechen wollen, also über solche biologische Schemata, die bei jedem vorhanden sein sollen, dann ist es immer wichtig Vergleiche mit Erzähltexten von anderen Kulturen zumachen. Deshalb fand ich den Vortrag der Ägyptologin, Camilla Di Biase-Dyson sehr spannend. Sie hat gezeigt, dass Fiktionalität damals ganz anders verstanden war, als heute, und ganz andere Kriterien den Erzähltext kohärent und glaubhaft machten, als in unserer modernen Literatur.
Verraten Sie uns, auf welche zukünftigen kognitiv-poetischen Projekte sich die Studierende gefasst machen können?
Als erstes wird ein Workshop über empirische Verfahren stattfinden. Die Psychologin der Forschungsgruppe für Kognitive Poetik, Orsolya Papp-Zipernovszky wird uns in die Methoden der empirischen Forschung einführen.Dies ist aber keine öffentliche Veranstaltung, weil sie nur unter einer bestimmten Teilnehmerzahl effektiv verwirklicht werden kann. Für Oktober haben wir aber einen Gastvortrag im Plan. Professor Tamás Bereczkei, Leiter der Forschungsgruppe für Evolutionäre Psychologie in Pécs, hat nämlich unsere Einladung angenommen und wird uns einen Vortrag über die Beziehung zwischen Evolution und Kultur halten. Natürlich sind alle Kollegen und Studierenden herzlich eingeladen und wir würden uns freuen, wenn viele Interessenten erscheinen würden. Ich selbst bin sehr gespannt darauf!
1ua. http://gema.szegedigermanisztika.hu/2013/12/der-geist-des-empirischen-lesers/
 
					