Rudolf Kassner: Der „Sohn von Kierkegaard“

Autor: Christiana Gules

Zeitung: 2014/1

Rubriken: Germanistik, Kultur

Ein Vortrag von Géza Deréky

Am 29. April 2014 organisierte der Lehrstuhl für Österreichische Literatur und Kultur einen vielversprechenden Gastvortrag. Unter dem Titel „Szól a szem és szól a szív… Látás – értelmezés – megismerés Rudolf Kassner írásaiban“ lud unser Gast, der Übersetzer Géza Deréky, das Publikum ein, einen in Ungarn kaum erwähnten, in Österreich fast vergessenen Denker des 20. Jahrhunderts kennen zu lernen. Doch was machte den Freund von Rilke und Hofmannsthal, den behinderten Weltreisenden zu seiner Zeit weltberühmt und warum werden seine Werke heute nur marginal besprochen?

Herr Prof. Dr. Pál Deréky hielt seinen aufschlussreichen Vortrag strikt aus der Perspektive des Übersetzers. Er stellte im Voraus fest, hierbei werde es sich nicht um die Erörterung einer Biographie handeln oder um die Darstellung des Lebenswerkes. Vielmehr konzentrierte er sich darauf, seinen Zuhörern einen Einblick in die vielleicht interessanteste Schaffensperiode von Kassner zu gewährleisten. Somit wurden Auszüge aus den Werken Von den Elementen der menschlichen Größe (1910) und Der indische Gedanke (1913) vorgelesen und kommentiert.

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Der indiskrete Mensch. „Wer kennt ihn nicht, diesen Genußmenschen ohne Geschmack, den tristen Erotiker, den mitleidsvollen Ästheten, den Patrioten aus Verzweiflung und ohne Überzeugung, den Frommen ohne Glauben?”[1]

Herr Deréky weist schon am Anfang seines Vortrages darauf hin, dass die Wiener literarische Moderne einen wichtigen Platz im übersetzerischen Oevre Kertész‘ einnimmt. Nicht nur Kertész, sondern auch György Lukács hatte früh die Schriften Kassners kennen und schätzen gelernt. Kassner gehörte zu den Größten der prämodernen Literatur und verblüffte mit seinen Werken solche Dichter wie Rainer Maria Rilke oder Hugo von Hofmannsthal. Dieses Erstaunen erläutert Rilke in einem seiner Briefe, als er von seinem Drang danach erzählt, die Essays aus Von den Elementen der menschlichen Größe mit auf seinen Spaziergang durch Paris zu nehmen und in einigen Stellen wiederholt lesend den verborgenen, eigentlichen Sinn der Wörter zu finden. Denn es war offensichtlich, dass irgendetwas Einzigartiges und Tiefgründiges durch die Unperfektion der Sprache zwischen den Zeilen verhüllt wurde.

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Unser Gast machte das Publikum auf eine ähnliche Äußerung von Hugo von Hofmannsthal aufmerksam. Der bekannte Dramatiker bezeichnete die Werke von Kassner als „dichte geistliche Produkte“. Und tatsächlich, Kassners Gedanken sprengen den Rahmen der Literatur. Er umspannt die Grenzen der Fiktion und als Denker überholte Kassner Platon und Aristoteles. Herr Deréky machte uns durch das Vorlesen gut ausgewählter Ausschnitte klar, was man unter der eigenartigen Philosophie, Hermeneutik und Physiognomie-Theorie von Kassner verstehen soll und wie seine Weltanschauung aussah. Ähnlich wie andere große Denker auch, suchte Kassner nach dem Genie des Menschen. Als Würdige nannte er zwei Arten von Menschen: den Künstler und den Platoniker. All die anderen, die keinen solch engen Kontakt zu Ästhetik und geistlicher Empfindlichkeit haben, werden von Kassner, so Deréky, als indiskrete Menschen bezeichnet.

Dabei ist festzustellen, dass Kassner Indiskretion nicht im Sinne von Ignoranz soziokultureller Sitten verstand, wie z.B. Etikette und Galanterie. Nein, indiskret heißt bei ihm soviel wie  existentiell formlos und frech zu sein. Anders gesagt, ein Mensch, der den goldenen Mittelweg nicht findet, doch glaubt, sich gerade auf ihm zu befinden. Denn nach Kassner ist das, was uns eigenartig und würdevoll macht, die richtige Erkennung der Welt und die Gewissheit der Mäßigkeit. Denn ohne Maß und ohne Erkennung wird der Mensch nur zu einer Karikatur, einer Verzerrung seines Selbst. Kassners Philosophie kann für den heutigen Menschen leicht nachvollziehbar gemacht werden. Man denke nur an die narzisstischen Personen, die tagtäglich Selfies posten, damit all ihre Bekannten sie „bewundern“ können. Zeugnisse des postmodernen digitalen Hedonismus.

Kassner begründet seine Kritik an den indiskreten Menschen mit dem Verschwinden der Perfektion, des Außergewöhnlichen (Gott) bzw. mit Mangel an Mut (zum Kampf um Leben und Tod). Als Kassner diese Gedanken niederschrieb (1910-13), befand sich die westliche Welt in einer sehr angespannten Situation. Die Menschen lebten unter guten Bedingungen, die Konsumgesellschaft entstand und Krieg wurde seit Generationen nicht mehr geführt. Wenn man nachdenkt, erkennt man die gleiche Situation auch in unseren Tagen. Es entstand die Mode des Individualismus. L’art pour l’art nicht nur in der Kunst. Das Leben des Einzelnen wurde als ein Kunstwerk gelebt. Man folgte keinen zentralen Idealen, man war selbst sein Eigenideal. Be yourself. Born this way. I did it my way. Bekannt?

Der Mensch verliert an Maß, an Form, an Qualität. Ein Ich-Kultus entsteht. Jeder ist maßlos eigenartig. Jeder ist speziell. Doch wenn jeder etwas Spezielles ist, dann ist keiner mehr einzigartig… Eine düstere Kritik an den damaligen Zeitgenossen. Das versteht Kassner unter  indiskreten Menschen.

Wie Herr Deréky öfter erwähnt hat, entwickelte Kassner ein eigenes Terminologiesystem, was auch für den erfahrenen Übersetzer eine Herausforderung bedeutet, diese Begriffe richtig ins Ungarische umsetzen zu können. Ist man aber fähig, zwischen den Zeilen zu lesen und das seriöse Begriffsarsenal des Denkers zu entschlüsseln, erfährt man, worin Kassner die Ausbruchsmöglichkeit aus der Indiskretion sieht. Nach ihm soll man hinter die armseligen Masken schauen können und den Kern des Menschen erkennen. Dieser Prozess der Erkennung ist aber lang und mühsam. Mit der „Imagination“ gelangt man zum Kern, dem Grundelement. Mit der Festlegung der Gestalt (Kern) und mit der Einbildungskraft (Imagination) zusammen soll der eigentliche, wahrhaftige Sinn erkannt werden. Interessanterweise definiert Kassner unser vielleicht rationalstes Sinnesorgan, das Sehen, als einen Akt der Seele und nicht als einen kognitiven Vorgang physischer Natur.

War Kassner ein Dichter? Oder ein Philosoph? Laut Deréky ist er sowohl beides als auch keines. Literaturwissenschaftler bezeichnen ihn als Philosophen, für Philosophen ist er eher ein Dichter. Diese Unstimmigkeit ergibt sich wahrscheinlich aus seiner synästhetischen Schreibweise und starkem Sprachgebrauch von Metaphern, mit denen die gravierenden Weisheiten formuliert werden.

Den vorliegenden Bericht möchte ich mit den Wörtern von Rainer Maria Rilke beenden. Seine achte Duineser Elegie widmet er seinem Freunde, und meiner Meinung nach könnte keiner die Person Kassners besser beschreiben als sein begabter Bewunderer.

/Christiana Gules/

 

Rainer Maria Rilke: Die Achte Duineser Elegie

Rudolf Kassner zugeeignet

Mit allen Augen sieht die Kreatur
das Offene. Nur unsre Augen sind
wie umgekehrt und ganz um sie gestellt
als Fallen, rings um ihren freien Ausgang.
Was draußen ist, wir wissens aus des Tiers
Antlitz allein; denn schon das frühe Kind
wenden wir um und zwingens, daß es rückwärts
Gestaltung sehe, nicht das Offne, das
im Tiergesicht so tief ist. Frei von Tod.
Ihn sehen wir allein; das freie Tier
hat seinen Untergang stets hinter sich
und vor sich Gott, und wenn es geht, so gehts
in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen.
Wir haben nie, nicht einen einzigen Tag,
den reinen Raum vor uns, in den die Blumen
unendlich aufgehn. Immer ist es Welt
und niemals Nirgends ohne Nicht: das Reine,
Unüberwachte, das man atmet und
unendlich weiß und nicht begehrt. Als Kind
verliert sich eins im Stilln an dies und wird
gerüttelt. Oder jener stirbt und ists.
Denn nah am Tod sieht man den Tod nicht mehr
und starrt hinaus, vielleicht mit großem Tierblick.
Liebende, wäre nicht der andre, der
die Sicht verstellt, sind nah daran und staunen . . .
Wie aus Versehn ist ihnen aufgetan
hinter dem andern . . . Aber über ihn
kommt keiner fort, und wieder wird ihm Welt.
Der Schöpfung immer zugewendet, sehn
wir nur auf ihr die Spiegelung des Frein,
von uns verdunkelt. Oder daß ein Tier,
ein stummes, aufschaut, ruhig durch uns durch.
Dieses heißt Schicksal: gegenüber sein
und nichts als das und immer gegenüber.

Wäre Bewußtheit unsrer Art in dem
sicheren Tier, das uns entgegenzieht
in anderer Richtung –, riß es uns herum
mit seinem Wandel. Doch sein Sein ist ihm
unendlich, ungefaßt und ohne Blick
auf seinen Zustand, rein, so wie sein Ausblick.
Und wo wir Zukunft sehn, dort sieht es Alles
und sich in Allem und geheilt für immer.

Und doch ist in dem wachsam warmen Tier
Gewicht und Sorge einer großen Schwermut.
Denn ihm auch haftet immer an, was uns
oft überwältigt, – die Erinnerung,
als sei schon einmal das, wonach man drängt,
näher gewesen, treuer und sein Anschluß
unendlich zärtlich. Hier ist alles Abstand,
und dort wars Atem. Nach der ersten Heimat
ist ihm die zweite zwitterig und windig.
O Seligkeit der kleinen Kreatur,
die immer bleibt im Schooße, der sie austrug;
o Glück der Mücke, die noch innen hüpft,
selbst wenn sie Hochzeit hat: denn Schooß ist Alles.
Und sieh die halbe Sicherheit des Vogels,
der beinah beides weiß aus seinem Ursprung,
als wär er eine Seele der Etrusker,
aus einem Toten, den ein Raum empfing,
doch mit der ruhenden Figur als Deckel.
Und wie bestürzt ist eins, das fliegen muß
und stammt aus einem Schooß. Wie vor sich selbst
erschreckt, durchzuckts die Luft, wie wenn ein Sprung
durch eine Tasse geht. So reißt die Spur
der Fledermaus durchs Porzellan des Abends.

Und wir: Zuschauer, immer, überall,
dem allen zugewandt und nie hinaus!
Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.
Wer hat uns also umgedreht, daß wir,
was wir auch tun, in jener Haltung sind
von einem, welcher fortgeht? Wie er auf
dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal
noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt –,
so leben wir und nehmen immer Abschied.

 

 



[1]      Kassner, Rudolf: Der indische Gedanke: Von den Elementen der menschlichen Grösse. Insel-Verlag. Leipzig. 1921.

        https://archive.org/stream/derindischegedan00kassuoft/derindischegedan00kassuoft_djvu.txt