Evolutionstheorie und Kunst?

Autor: Christiana Gules

Zeitung: 2014/1

Rubriken: Germanistik, Studium

Ist Kunst ein kulturelles Produkt oder ein biologisches Bedürfnis des Menschen?

Was ist schön? Was ist Kunst? Woher stammt Kunst und was ist der Grund dafür? Ist sie durch die Gesellschaft oder die menschliche Natur des Individuums bestimmt? Laut Prof. Dr. András Bálint Kovács ist Kunst ein Produkt des evolutionären Entwicklungsprozesses des Menschen und Grundstein der Kulturentwicklung. Eine wahrhaft tapfere Hypothese seitens eines Ästheten.

Am 11. Februar 2014 hielt der Leiter des Instituts für Filmwissenschaft an der Eötvös Loránd Universität (ELTE) Prof. Dr. András Bálint Kovács einen einführenden Vortrag zum Thema Evolutionstheorie und Kunst. Der Vortragende beschäftigt sich hauptsächlich mit dem modernen europäischen Kunstfilm, worüber er auch mehrere fachbezogene und ästhetische Schriften publiziert hat. Momentan erforscht er mit Hilfe von psychologischen Ansätzen die Gedanken der Zuschauer während eines Films und wirkt damit bei der Arbeit der Forschungsgruppe für kognitive Poetik mit.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Wie die Moderatorin Dr. Márta Horváth während der Begrüßung erläuterte, soll der Vortrag von Professor Kovács als eine Eröffnung einer zukünftigen Reihe dienen, deren Zielsetzung es ist, Ansätze und Ergebnisse der Forschungsgruppe unter den ungarischen Studierenden verschiedener Fachrichtungen bekannt zu machen. Die leitenden Ansätze, u. a. evolutionsbiologischer und kognitiv-psychologischer Natur, sind nämlich im Gegensatz zu den englisch- und deutschsprachigen Foren bei uns in Ungarn wenig bekannt. Die Arbeit des unter der Koordination von Frau Dr. Márta Horváth und Frau Dr. Erzsébet Szabó laufenden Projektes umfasst sowohl theoretische als auch empirische Untersuchungen im Bereich kognitiver Wissenschaften (Psychologie und Neurobiologie) sowie der Literatur- und Medienwissenschaften. Zu den ersten Erfolgen der frisch gegründeten und seit Januar 2014 offiziell tätigen Forschungsgruppe gehört die Universalien-Konferenz im Mai 2012 und die Erscheinung des literaturtheoretischen Bandes Helikon mit dem Titel “Kognitive Literaturwissenschaft” im Herbst 2013 (GeMa berichtete darüber im Wintersemester 2013: http://gema.szegedigermanisztika.hu/2013/12/der-geist-des-empirischen-lesers/).

Nach der Vorstellung des Projektes und der Erläuterung des wissenschaftlichen Rahmens kam es zum ungarischsprachigen Vortrag von Herrn Kovács. Dank seiner Bekanntheit befanden sich hauptsächlich Filmstudenten und Ästheten im Raum, die aber ganz früh feststellen mussten, dass es hier kaum um Filme oder Analyse konkreter Kunstwerke gehen wird. Der Vortrag konzentrierte sich auf die theoretischen Grundlagen der evolutionsbiologischen Theorie.

In seinem ruhigen und lässigen Stil wühlte der Vortragende altbekannte Ansätze zur Kunst in Ästhetik und Philosophie auf. Erstens beantwortete er die Frage Was ist schön? noch ganz “traditionell”, indem er meinte, schön sei etwas Relatives, gebunden an ästhetische Konventionen, die sich aus dem Verhältnis von gesellschaftlichen Institutionen und physischen Eigenschaften des Reizobjektes ergeben.

Danach ging er auf die Schnittstelle zwischen soziologischen Aspekten und evolutionswissenschaftlich bezogenen Ansätzen ein. Damit wies er gleichzeitig auf die Interdisziplinarität hin, von der die modernen kognitiven Auffassungen innerhalb der Literaturwissenschaft aktuell stark geprägt werden. Zu den kritischen Punkten dieser Interdisziplinarität gehört einerseits die Integration naturwissenschaftlicher Thesen, die normalerweise nichts mit Literatur oder Kunst zu tun haben. Während sowohl die Literaturwissenschaft als auch die Filmwissenschaft einen philosophischen Charakter aufweisen, da sie spekulieren, Hypothesen formulieren und strikt theoretisch vorgehen, bringt die Naturwissenschaft eine objektivere Sichtweise mit sich. Diese Perspektive strebt danach, sich vor subjektiven Normierungen und unbegründeten Aussagen zu hüten. Andererseits ist die Naturwissenschaft faktenbezogen und empirisch konkretisierbar. Während der Philosoph auf jede Frage eine Antwort zu wissen glaubt (oder wenn nicht, das Phänomen als Geheimnis/Mysterium akzeptiert), traut sich der Naturwissenschaftler “ich weiß nicht” zu sagen und progressiv weiter zu forschen.

Letztendlich klingt der Begriff “Evolution” in den Ohren von Philosophen stark nach einer evolutionären Soziologie, nach radikalen Programmen mit einem politischen Nachgeschmack. Es geht hierbei aber nicht darum, irgendwelche schicksalhaften Ziele oder fatalen Entwicklungstendenzen festzustellen. Auch will sie zwischen Überlegenen und Unterdrückten nicht unterscheiden, wie das der Marxismus tat. Es geht eben darum, die Übereinstimmungen zu finden, ein System aufzubauen. Da der Naturwissenschaftler nicht bewertet, sondern nur Daten sammelt, geraten die Meisterwerke aus dem Blick und die Massenproduktion, die Pop-Kultur bleibt im Fokus der Untersuchungen. So können allgemeine Schemata festgestellt werden, die sich aus Ähnlichkeiten ergeben und Grundrisse von Kulturen bestimmen. Diese Muster ergeben laut Herrn Kovács ein hierarchisches Bild. Aufgrund der ontologischen Evolution des Menschen bildeten sich erstens die Nervenschemata, danach folgten die subjektiven, mentalen, gesellschaftlichen und schließlich kulturellen Schemata. Die Analyse von konkreten Kunstwerken erfolgt in Richtung der Verallgemeinerung. Angefangen mit den spezifischen textuellen Merkmalen über die kritischen und psychologischen Aspekte hinaus endet die Analyse mit der Untersuchung der Hirnfunktionen. Dadurch sollen die anscheinend chaotischen und zufälligen emotionalen Reaktionen auf Kunst in ein System gebracht und als “kognitive Emotionen” definiert werden können.

Prof. Dr. András Bálint Kovács begründet das menschliche Bedürfnis nach Kunst biologisch, indem er auf die Massenkultur hinweisend festlegt, dass hierbei die Interpretation gar keine Rolle spiele, sie sei nur etwas Subjektives. Denn was ein Monet-Gemälde oder eine Tim Burton-Szene für uns heute bedeuten kann, konnte eine Höhlenzeichnung für einen Steinzeitmenschen auch bedeuten. Der Vortragende betonte, das Malen an den Wänden an sich sei nicht ein Instrument, ein Medium, sondern ein instinktives Bedürfnis. Im Gegensatz zu etablierten Ansätzen, Kunst sei ein Produkt der Religion, meint Herr Kovács, der Mensch hätte das Malen als Unterhaltung erfunden, um ein biologisches Verlangen zu stillen. Er wolle etwas Ästhetisches produzieren und es mit seinen Mitmenschen teilen. Erst nach diesem wichtigsten Beweggrund folgen andere wie etwa Religion oder Politik.

Der Vortrag von Herrn Kovács löste eine lebhafte Diskussion unter den Philosophen aus. Man spürte einen kleinen Widerstand, diese unkonventionelle Idee, mit naturwissenschaftlichen Thesen und empirischen Methoden zu arbeiten, zu akzeptieren. Die Botschaft der Arbeit verbirgt sich aber in der Erkenntnis, dass die Vorteile einer interdisziplinären Zusammenarbeit mit Biologen und Medizinwissenschaftlern dem Literaturwissenschaftler von heute zu solchen neuartigen Fragen verhelfen kann, die nur durch die gegenseitige Ergänzung dieser voneinander entfernten Bereiche gestellt und beantwortet werden können.

/Christiana Gules/