Niemand darf eine Macht wie diese haben, dachte er sich, bevor er das U-Boot direkt in einen Eisberg steuerte. In seinen letzten Momenten wünschte er sich nur, dass er die ihm angebotene Zigarette doch angenommen hätte.
Eine Woche zuvor, in einer kleinen Kneipe in der Nähe der Schiffswerften von Kiel. 30. April 1945. Frühe Nacht.
»Heinrich, das Wunderkind!«, sagte Günther zu dem Mann, der gerade eintrat. »Nanu, dass du hier bist, Kamerad!«
»Das heißt Hauptsturmführer Krüger, Leutnant Hartmann «, kam die Antwort. Der Mann setzte sich neben Günther und fing an, seine feinen Lederhandschuhe, dunkler als die dunkelste der Nächte, auszuziehen. Er winkte dem Kneipenwirt, bevor er weiter ausführte »Es ist was? Vier Jahre her? Seit wir uns zuletzt trafen.«
»Fünf, eigentlich«, sagte Günther, bevor er einen Kurzen runterkippte. »Ich sehe, du hast es weit gebracht, nicht wahr?«
Hauptsturmführer Krüger hat es wirklich weit gebracht, wenn man bedenkt, dass er nicht weit von hier von einer Bauersfrau geboren wurde, in einem ruhigen, kleinen Dorf in Schleswig-Holstein. Vor sechs Jahren waren er und Günther Hartmann noch unzertrennliche beste Freunde, und sie beide traten fröhlich dem Militär bei, als der Anruf kam. Ihre Väter könnten nicht stolzer sein.
»Du warst immer ziemlich rücksichtslos, Heinrich. Es ist gut, dich zu sehen, Kamerad.«
»Was trinkst du da?«
»Spottbilligen Cognac, denke ich. Schmeckt wie Fischmilch.«
»Sprichst du aus Erfahrung?«, fragte der Hauptsturmführer grinsend.
»Verpiss dich«, schmollte Hartmann, halb lachend.
»Ich will das Gleiche haben«, sagte Krüger zum Kneipenwirt.
Einige Freundschaften überstehen die Zeit. Manche nicht. Diese konnte.
Am nächsten Tag, 1. Mai. Die Schiffswerften, Morgen.
»Stillgestanden!«, schrie Kapitänleutnant Schulze. Die Besatzungsmitglieder stoppten sofort und bildeten eine geordnete Reihe. »Dies ist Hauptsturmführer Krüger von der Gestapo«, sagte er und zeigte auf den Mann mit dem langen Ledermantel, der lässig eine Zigarette rauchte. Die Besatzungsmitglieder wandten ihm ihre Köpfe zu und salutierten schnell.
»Der Sieg ist noch ein gutes Stück entfernt, aber die Kriegsmarine bleibt immer noch pflichtbewusst! Wir sind die Hoffnung des Vaterlandes und wir werden unsere Mission bis zum letzten Mann durchführen. Stimmt das, Männer?«, fragte der Kapitän ziemlich melodramatisch, dachte Heinrich. Warum diese Theatralik? Der Krieg war so gut wie vorbei.
»Unsere Mission ist es, Hauptsturmführer Krüger und seine Ladung sicher nach Island zu bringen. Es könnte eine felsige Fahrt werden, Männer, weil wir durch britisches Gewässer müssen…« Heinrich achtete nicht einmal auf den Rest seiner Rede. Er suchte das Gesicht seines Freundes unter den Mannschaftsleuten. Nach ein paar Sekunden entdeckte er Hartmann. Er war froh, das vertraute Gesicht zu sehen.
»Na gut, das ist genug Herr Kapitänleutnant, danke. Hört zu, Männer! Wir fahren um genau zwanzig Uhr heute Abend los. Verladet diese Kisten sehr sorgfältig, insbesondere die markierte, dann habt ihr den Rest des Tages frei. Nur seid bereit, wenn die Zeit kommt. Wegtreten!«, salutierte er schnell und nach ein paar Minuten winkte er Hartmann zu sich.
»Also ich sehe, du bist immer noch der Mechaniker«, sagte er scherzhaft.
»Ich bin Chefmaschinist seit einem Jahr, wenn du es wirklich wissen musst«, antwortete Hartmann mit einem Hauch von Eifersucht in seiner Stimme. »Hab’ kein Ritterkreuz wie du, aber meine Mannschaft und ich halten zusammen und gehen mit diesem U-Boot durch dick und dünn.«
»Nun, ich möchte, dass du weißt, dass ich niemand anderes als Chefmaschinisten für diese Reise bekommen wollte. Es interessiert mich nicht, wer ein Ritterkreuz hat oder nicht. Wenn du willst, kannst du meins haben. Es wird in einem Jahr keinen Pfifferling mehr wert sein.«
Chefmaschinist Hartmann hatte keine Antwort, abgesehen von einer kurzen Röte auf seinen Wangen. Er schämte sich für seinen eifersüchtigen Ausbruch. Er ging weg und Krüger folgte ihm.
»Schau, Günther, ich bin besorgt, aber ich kann das nicht zulassen, dass es jemand anderes sieht. Ich soll das Leuchtfeuer des Vertrauens sein, verstehst du? Ich bin der Herr Hauptsturmführer, um Himmels willen!«
»Moment mal, worüber bist du besorgt?«
»Alles, der Krieg, das Leben und diese Kisten, Günther! Sie gehörten der Thule-Gesellschaft. Der gottverdammte Auftrag kommt von Himmler selbst!«
»Was ist in ihnen?«, fragte Günther und glaubte, die Antwort schon zu kennen.
»Ich weiß es nicht. Niemand wollte es mir sagen, oder niemand durfte es mir sagen. Ich soll sie nur nach Island liefern.«
»Nun, das bringt mir nicht gerade einen ruhigen Schlaf, falls du dich darüber wunderst.«
2. Mai, einige Zeit nach Mitternacht. Die Kojen der U-535, irgendwo vor der Küste Dänemarks.
Günther fand nicht einfach seinen Schlaf. Er fand das seltsam, denn er hatte noch nie Probleme, auf der U-535 zu schlafen. Er dachte immer, dass sie – das Schiff und er – eine Art Verbindung hatten. Als ob sie sich gegenseitig verstehen könnten. Aber heute fühlte es sich vor allem einengend und kalt an. Er konnte nicht aufhören, über die Kiste in dem Frachtraum nachzudenken. Er stand auf und beschloss, in den Maschinenraum zu gehen, wo er sich immer am wohlsten fühlte.
Als er auf dem Weg war, sah er einen dünnen Lichtstrahl, der aus dem Frachtraum kam. Er entschied sich, dies genauer zu untersuchen und schlich näher. Er spähte hinein in die kleine Öffnung. Da saß Krüger auf der markierten Kiste und rauchte eine Zigarette. Er legte gerade sein Feuerzeug weg, die Quelle des Lichts, das er auf dem Flur sah.
»Konntest du nicht schlafen?«, fragte er, als er eintrat.
»Nicht wirklich. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, höre ich immer wieder diese krabbelnde Stimme in den Wänden. Ratten vielleicht? Jedenfalls kam ich, um die Kiste zu überprüfen und ich dachte, eine Zigarette wäre schön. Möchtest du eine?«
»Bist du wahnsinnig? Rauchen? Hier drin? Du sitzt keine fünf Meter weit von einem Patronenbehälter, Idiot! Und der Torpedo da ist keine Dekoration, verstanden? Du könntest uns alle umbringen!« Krüger zuckte mit den Schultern und nahm einen tiefen Zug. Günther sammelte sich und setzte sich zu seinem Freund. Nach ein paar Sekunden Stille sprach er wieder »Erinnerst du dich, als wir Kinder waren und dieser Idiot Schneider mich in den Schweinestall werfen wollte? Und du schlugst ihm einen seiner Zähne aus?«
Heinrich antwortete zwischen zwei tiefen Zügen »Er ist an der Ostfront ums Leben kommen. Hab’ es von seinem Vater gehört, als ich nach Hause kam, für die Beerdigung meiner Mutter. Wer könnte Schneider vergessen, die blutrünstige Drecksau!«, kicherte Krüger, dann hustete er.
»Mist! Ich habe immer gedacht, dass mich sein Tod fröhlich stimmen wird, aber jetzt fühle ich nichts.« Günther konnte sich nicht beherrschen und nahm die angezündete Zigarette vom Hauptsturmführer. »Ich meine, ich konnte ihn nicht ausstehen, aber am Ende war er doch ein Kamerad, weißt du, was ich meine? Er kämpfte für die Zukunft unseres Landes. Ich sollte stolz auf ihn sein, oder?«
»Ich bin mir nicht sicher, wofür ich gekämpft habe…«, sagte Heinrich leise, teils an seinen Freund, teils an sich selbst und wahrscheinlich teils an niemand.
Günther tat so, als ob er das nicht gehört habe und drückte die Zigarette aus, bevor er aufstand. »Jedenfalls, gute Nacht. Versuche, etwas Schlaf zu bekommen. Wir müssen morgen an die Oberfläche, für eine halbe Stunde auftauchen. Vielleicht wird die Sonne dich etwas aufheitern.« Damit ging er in seine Koje zurück, aber er konnte immer noch nicht schlafen. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, hörte er wieder Schneiders Stimme aus der Kindheit. »Komm her, Günthi, es wird nicht weh tun, ich schwöre!« Er konnte auch nicht aufhören, sich über die Melancholie in der Stimme seines Freundes zu wundern.
5. Mai, irgendwann nach Sonnenuntergang. Vor den Klippen Norwegens.
»Wir müssen sehr vorsichtig sein auf der nächsten Strecke. Ich habe gerade Nachricht von Bordfunker Neudorfer bekommen, dass die U-534 im Kattegat durch die Briten versenkt wurde, in der Nähe der Insel Anholt. Sie nahmen den Bomber mit ins Grab, aber ich würde gerne die verfluchten Inselbewohner vermeiden!«, brüllte Kapitänleutnant Schulze. Er sah müde und viel älter aus, dachte Günther, als ob er keinen Schlaf in den letzten Tagen bekommen hätte. Er war überrascht, als Schulze sich zu ihm umdrehte »Und um Christi willen, Herr Chefmaschinist, können Sie die gottverdammten Stimmen bitte loswerden! Ich kann bei diesem Herumkrabbeln nicht schlafen, so viel Lärm macht das.« Er warf einen wütenden Blick auf Günther, der schwer schluckte und salutierte.
6. Mai, knapp nach Mitternacht.
Hauptsturmführer Krüger erwachte in Schweiß gebadet, als er die Stimme seiner Mutter hörte; die Stimme eines Gespenstes, da war er sich sicher. Er nahm seine Luger zur Hand und glitt wie ein Schatten aus seiner Kabine. Mit geschärften Sinnen schlich er zum Frachtraum.
Kapitänleutnant Schulze hatte genug. Er entschied, selbst den Lärm zu stoppen. Er stieg aus dem Bett und folgte dem Rauschen bis zur Quelle. Es zog ihn durch den ganzen Flur, bis zum Frachtraum.
Das Rauschen hörte abrupt auf, als der Kapitänleutnant eintrat. Er stand der markierten Kiste gegenüber und sagte sich ruhig, mit einer seltsamen sanfte Stimme, ganz ungewöhnlich für ihn: »Er wird bald zurückkehren, um über uns das Urteil zu sprechen. Wir können nicht entkommen. Was wir getan haben! Lass die Sünder brennen im himmlischen Feuer!«
Krüger beobachtete die geradezu verrückte Szene hinter den T-11 Torpedos. Was dort geschah, änderte den Rest seines Lebens. Schulze, als ob er von etwas unsagbar Altem besessen sei, hob die Hände hoch. Die Kiste sprang auf und enthüllte ein dolchartiges Instrument. Der ganze Raum ertrank in Licht.
6. Mai, sieben Minuten später.
In dieser Nacht träumte Günther von dem Schweinestall. Dort waren er, Heinrich, Schneider und all die anderen Kinder. Schneider, den Tyrannen, hielt er am Hemd, dazu bereit, ihn in den knietiefen Schlamm und die Scheiße zu werfen. Er erwachte vom ohrenbetäubenden Schrei des Feueralarms und huschte schnell in Richtung Feuerlöscher. Der Geruch von brennendem Fleisch durchdrang die Luft. Der Gestank wurde stärker und stärker und die Schritte aus dem Flur kamen näher und näher. Er wagte nicht, zur Tür zu gehen. Seine Kameraden, unsanft aus dem Schlaf geweckt, warteten mit angehaltenem Atem.
Der Schatten Schulzes erschien in der Tür, umgeben von einer seltsamen Krone aus schillerndem Licht. Er hatte etwas in der Hand, das definitiv nicht seine Luger war, aber vielleicht eine Art von Dolch. Es verbrannte sein Fleisch, wo die Hand des Kapitänleutnants es berührte. Die Augen der Besatzungsmitglieder folgten dem Instrument, als Schulze es über den Kopf hob.
»Blick auf den Speer des Schicksals und tu Buße! Der Geist von Golgotha spricht zu Euch!«, hallte seine Stimme durch den Raum. Günther sah, wie die Augen seiner Kameraden sich langsam in kleine Lichtlein verwandelten. Sie fingen alle an aufzustehen und streckten die Hände aus, um den Speer zu berühren. Günther fühlte ein leises Ziehen in seinem Herzen, doch er blieb bei Sinnen.
Ein plötzlicher Lichtblitz hinter dem Kapitän brachte Aufruhr und er fiel auf seine Knie. Krüger schoss seine Pistole ein zweites Mal und traf Schulze – wenn das Wesen noch Schulze war – genau in die Kehle. Der Kapitänleutnant ging zu Boden und bewegte sich nicht mehr.
»Alles wird gut, Günthi! Hab’ keine Angst!« Das verbrannte Gesicht Krügers versuchte zu lächeln. »Alles wird gut,« sagte er, als er niederkniete, um den Körper auf Vitalzeichen zu überprüfen. Er sah Günther in die Augen und konnte nicht einmal die tödliche Einstichstelle sehen. Die glühende Speerspitze drang durch Brustbein und Herz. Krügers Körper verkrampfte sich und er fühlte keinen Schmerz, als seine Brust von innen heraus verbrannte. Dann spürte er die große beruhigende Freiheit.
Was von Schulzes Wesen noch übrig war und die verbrannte Leiche des ehemaligen Krügers fielen zu Asche zusammen. Günther hatte Angst wie nie zuvor. Er beobachtete, wie der strahlende Speer sich auf wundersame Weise vom Boden aufgehoben hat, während seine Kameraden staunend dastanden. Mit der letzten Willenskraft, die er noch hatte, bespritzte er die uralte Waffe mit dem Inhalt des Feuerlöschers und rannte dann aus dem Schlafsaal. Er hörte nicht auf zu laufen, bis er den Steuerraum erreichte.
/Máté Sásdi/
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