Debatten über eine Frauenquote, die Öffnung der Ehe und Adoptionsrechte für homosexuelle Paare, Pornographie und Prostitution – also über Geschlecht und Sexualität – tauchen immer wieder auf, klingen ab und werden wieder von Neuem geführt. Gender Mainstreaming, Gender Studies, queerness werden in aller Munde geführt. Ein ganz aktuelles Beispiel ist der Sieg Conchita Wursts im Eurovision Song Contest. Jetzt, nach ihrem Erfolg, wird sie als Heldin und Symbol für Toleranz und Offenheit gefeiert. Vor dem Wettbewerb wurden Petitionen gegen ihre Teilnahme unterschrieben, äußerten Politiker abfällige und beleidigende Kommentare.
Aber was sollen diese Kontroversen mit Literatur, ihrer Entstehung und Rezeption zu tun haben? Diese Frage zu beantworten hat sich die feministische Literaturwissenschaft verschrieben.
Obwohl gleich zu Beginn gesagt werden muss, dass es „die“ feministische Literaturwissenschaft nicht gibt, vielmehr besteht sie aus vielen verschiedenen Strömungen, Sichtweisen, Theorien und damit auch Methoden.
Entstanden ist sie ab den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Frauen als Symbol, als Mythos, als „das Andere“ bestehen zwar seit eh und je in der Literatur, doch während der sogenannten zweiten Welle der Frauenbewegung entstand das Bedürfnis, Frauen als Subjekte sichtbar zu machen, Schriftstellerinnen (wieder) zu entdecken, den Kanon neu zu interpretieren. Nach und nach kamen neue Fragen und Erkenntnisinteressen hinzu: Unter welchen historischen Bedingungen schrieben Frauen? Welche Lebensläufe hatten sie, welche Erfahrungen haben sie als schreibende Frauen, d. h. als Personen, die sich einmischen in die Produktion von Kultur und Werten, gemacht? Und auch: Wie wird in Literatur Geschlecht produziert? Wie können die narrativen Strategien sichtbar gemacht werden, die die immer gleichen Frauenbilder herstellen? Und schließlich: Wie konstruieren wir selbst und in der Gesellschaft als Ganzes tagtäglich Geschlecht und Sexualität?
Faust in Zweifel (Hans Haas, Taunusbühne 2011)
Nehmen wir als Beispiel das wohl berühmteste deutsche Buch, Faust. Faust erscheint zuerst als alternder Gelehrter, der es riskiert, eine wagemutige Wette einzugehen. Gretchen hingegen ist jung, naiv, religiös, sittsam. Diese verschiedenen Attribute werden also jeweils mit einem Geschlecht assoziiert, so entsteht ein Netz von geschlechtlich markierten Verbindungen. Bereiche wie Wissenschaft und Religion, die scheinbar geschlechtslos sind, werden so unmerklich Träger von Bedeutung in einem Feld der scheinbar eindeutigen Opposition von Mann und Frau. Durch diese Erzählungen aber wird Geschlecht erst konstruiert, ein Subjekt ohne Geschlecht ist unmöglich. Nicht zu vergessen ist die Hierarchie der Geschlechter. Faust ist ein Mann mit allen Möglichkeiten, ihm steht die Welt offen, er kann sogar befehlen, dass Gretchen seine Geliebte werden soll. Gretchen hingegen arbeitet fleißig, ist ehrbar und anständig, weiß gar nicht recht wie ihr geschieht. Aber diese Unterordnung und Definition des Einen durch das Andere ist selbst Konstrukt, ist weder „normal“ noch naturgegeben.
Schließlich ist Gretchen schwanger, fühlt sich schuldig am Tod von Bruder und Mutter und sieht keine andere Lösung, als ihr neugeborenes Kind umzubringen und landet deswegen am Galgen. Dies kann man als reine Tragödie betrachten, man kann aber auch nach den historischen Bedingungen fragen, die in solchen Lebensläufen münden und den Bedingungen der Rezeption, die dazu führen, dass Gretchen als Opfer von Faust (und Mephisto) ihr Heil schlussendlich in der Religion findet, gesehen wird, und nicht als Subjekt, das innerhalb einer Gesellschaft, die stets das Männliche als Norm setzt, ihre Möglichkeiten auslotet und aufgrund ihrer Schande als Mutter eines unehelichen Kindes, einer Schande, die nur über die Mutter und nie über den Vater kommt, sterben muss.
Gretchen betet zu Gott (Anja Kugelstadt, Taunusbühne 2011)
Denn wie normal und selbstverständlich wir die heutigen Verhältnisse finden [ja, sie verändern sich! Rosa und rot galten früher als männliche Farben, Blau und hellblau wurden Frauen zugeordnet] merkt man erst, wenn man den Spieß umdreht: Was wäre, wenn Faust eine Frau und Gretchen ein Junge wäre? Fausta, eine alternde Gelehrte, riskiert es, eine wagemutige Wette mit dem Teufel einzugehen und verliebt sich in Gert, einen Jungen aus einfachen Verhältnissen, der oft in die Kirche geht und stets bedacht ist, alles richtig zu machen. Die Geschichte, so wie Goethe sie aufgeschrieben hat, hätte eine viel stärkere Veränderung erfahren, als nur den Austausch von Namen und Pronomen. Die geschlechtlichen Zuschreibungen wären unterlaufen, man würde sich fragen: Wie kommt es, dass Fausta so gebildet ist? Ist es nicht zu frivol für eine Frau, eine so riskante Wette einzugehen? Und warum interessiert sie sich für einen so jungen Kerl? Wieso ruiniert sie sein Leben? Wieso verfällt Gert Fausta derartig; sieht er nicht, wohin das führen muss? Und noch weiter gefragt: Was wäre, wenn Fausta sich in Gretchen verlieben würde? Faust in Gert? Inwieweit würde das die Geschichte und die Art, wie wir sie lesen, verändern? Würden wir sie überhaupt lesen und als bedeutendstes Werk der deutschen Literatur bezeichnen?[1]
Diese expliziten und impliziten Vorstellungen davon, was angemessen für eine Frau, und was angemessen für einen Mann ist, sind uns so vertraut und selbstverständlich, dass wir oft gar nicht merken, wie stark wir uns davon beeinflussen lassen. Das merkt man zum Beispiel daran, dass es noch immer ungewöhnlich ist, wenn der alleinerziehende Elternteil der Vater ist, wenn eine Frau im Vorstand eines Automobilkonzerns sitzt oder einen Bart trägt. Danach folgt oft die Rückversicherung: Aber die meisten Alleinerziehenden sind Mütter, die meisten Männer interessieren sich viel mehr für Autos und Wirtschaft als Frauen, die Frau mit dem Bart ist ja eigentlich ein Mann, die tut doch nur so.
Wenn nun aber alles Geschlecht konstruiert ist, was ist dann Weiblichkeit und Männlichkeit, was ist ein Mann, was eine Frau? Wie kann man eine weibliche Figur analysieren, eine Schriftstellerin lesen, wenn durch diese Benennung Frau als Kategorie erst gebildet wird, aber davon ausgegangen wird, dass es diese Kategorie eigentlich nicht gibt? In der feministischen Literaturwissenschaft hat das häufig zu einer Zweiteilung der Ziele geführt: Es wird davon ausgegangen, dass es keine Männer und Frauen „an sich“ gibt, sie entstehen erst durch unser Handeln, Sprechen und Schreiben. Dies zu analysieren, zu reflektieren und neue Lesarten und Handlungsmöglichkeiten zu erforschen ist das eine Anliegen. Das andere ist das Streiten für die Gleichberechtigung und Emanzipation von Frauen und anderen benachteiligten Gruppen. Denn auch wenn diese Gruppen nicht „einfach so“ schon immer da waren, so ist die Einteilung in Mann und Frau, homosexuell und heterosexuell, behindert und nicht behindert trotzdem eine Einteilung, die sich im Großen wie im Kleinen auswirkt und unser Leben mitbestimmt.
Diese Kategorisierungen sind oft genug – bewusst oder unbewusst – einschränkend und diskriminierend. In diesem Sinne sind wohl auch Conchita Wursts Worte zu verstehen, die ihren Sieg einer Zukunft in Frieden und Freiheit widmete.[2]
/Dorothea Dicke/
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Faust._Eine_Tragödie, zuletzt eingesehen am 18. 05. 2014.
[2] http://www.youtube.com/watch?v=RfyQadubi_U, zuletzt eingesehen am 18. 05. 2014.