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Autor: Dorothea Dicke

Zeitung: 2014/1

Rubrik: Rezension

Rezension zu Das größere Wunder von Thomas Glavinic

Wer bin ich und wie bin ich dieser geworden? War ich schon immer ich oder werde ich jeden Tag neu? Wie wird man der, der man sein soll? Kann man das überhaupt? Und ist man dann glücklich? – Fragen, die sich der Hauptcharakter Jonas immer wieder stellt. Die Antwort seines Ziehvaters Picco: „Antworten werden überschätzt.”

thomas glavinic

Der Autor, Thomas Glavinic, hat schon einige Romane geschrieben und gilt als einer der einflussreichsten jüngeren Schriftsteller in Österreich. Mit Wie man leben soll gelang ihm 2004 sein bis jetzt größter Erfolg: Platz eins der Bestsellerliste Österreichs und der Kritiker-Bestenliste des ORF. 2013 nun wurde Das größere Wunder veröffentlicht.

The summit of the world's highest mountain Mount Everest, also known as Qomolangma, is covered in cloud as climbers from the Olympic torch relay team reach the top in the Tibet Autonomous Region

Es ist ein Bergsteigerroman, aber es ist auch mehr als das. Jonas will den Mount Everest besteigen, zusammen mit einem Team, bestehend aus anderen Touristen und Sherpas, die den Touristen die schweren Lasten tragen und sich so risikoreich den Lebensunterhalt verdienen. Sie klettern von einem Basislager zum nächsthöheren und kämpfen dabei gegen die Höhenkrankheit, die Kälte, die Schmerzen, und nicht zuletzt gegen sich selbst. In Rückblenden wird die Kindheit und Jugend von Jonas erzählt.

Seine Mutter ist schwer alkoholkrank, sein Zwillingsbruder Mike ist behindert und wird deswegen fortwährend gemobbt und bedrängt. Jonas will ihn beschützen, bis er schließlich selbst zusammengeschlagen wird und im Krankenhaus landet. Die beiden ziehen zu Werner, dem besten Freund von Jonas. Werner wohnt bei seinem Großvater Picco, der aus dubiosen Quellen stinkreich geworden ist und die Kinder tun lässt, was sie wollen. So kommt es, dass die drei im ganzen Ort quasi sturmfrei haben und das auch leidlich ausnutzen: Mit ihren Streichen bestrafen sie diejenigen, die Mike hänseln und da sie keine Grenzen kennen, kennen sie auch kein Risiko, stürzen sich Hänge hinab, sprengen einen Schweinestall in die Luft, duschen sich wochenlang nicht. Jonas beschäftigt dabei die Frage „Warum nicht?” viel mehr als die Frage „Warum?”.

Schließlich stirbt Mike bei einem Attentat, Werner wird sein Wagemut zum Verhängnis und Picco begeht lieber Selbstmord, als krank dahin zu siechen. So bleibt Jonas allein zurück und es beginnt eine Odyssee. Er reist von einem Land ins nächste, besucht zig Städte, schließt wenige Freundschaften. Immer auf der Suche nach sich und, wie könnte es anders sein, nach der einen, großen Liebe, die er in Marie findet. Marie ist von Beginn des Buches an präsent, wenn auch immer nur in Andeutungen. Vorherrschender sind die erstaunlichen Fähigkeiten von Jonas: Aus keinem Kampf nimmt er mehr mit als ein paar Kratzer, versteht unzählige Sprachen, hat trotz der ständigen Flugreisen nie Jetlags. Dazu kommen weitere Seltsamkeiten: Von Picco hat er ein unfassbares Vermögen ererbt, das ihm alles ermöglicht. Eine Insel, ein Schiff, ein Baumhaus in der Einöde, eine Kalaschnikow in einem jemenitischen Dorf. Man kann das alles abenteuerlich übertrieben finden, man kann es aber auch als eine märchenhafte Allegorie auf das moderne, globalisierte Leben sehen. Fantastisch sind die Dinge, die geschehen, die Suche nach dem Sinn und nach dem Ich kommt weitgehend glaubhaft rüber. Die Stimmungen und Gefühle, besonders in der Kindheit und Jugend, werden überzeugend, dabei nie zu explizit dargestellt.

Der Roman hat allerdings auch seine Schwächen, die Dialoge klingen häufig holprig und gekünstelt. Beispielsweise fragt ihn Picco einmal, wer er sei. Jonas antwortet: „Ich will der werden, der ich bin. […] Ich glaube, man ist schon jemand. Jeder ist jemand, und besser als das kann man nicht werden. Er kann nichts anderes werden, und wenn er es doch wird, ist er nicht glücklich.” […] „Glaubst du, man ist glücklich, wenn man geworden ist, was man ist?” „Das weiß ich nicht. Das kann ich nicht sagen. Vielleicht auch nicht. Aber wenn, dann nur so.” Sicherlich ein interessanter Gedankengang –  aber ob so ein Achtjähriger redet? Auch das Sehnsuchtsziel Sonnenfinsternis, dem Jonas hinterherreist und das schon auf dem Buchcover eingeführt wird, wird nur dürftig erklärt, seine schier unendliche Faszination dafür bleibt wenig nachvollziehbar.

Um die Frage, wer man ist und wie man dieser geworden ist oder wird, geht es immer wieder. Auch darum, wie man die Angst eines Menschen in der modernen Welt, es zu nichts zu bringen, aushalten und ob man auch einsam glücklich sein kann. Wie will ich meine Zeit verbringen? Habe ich nicht schon so viel Zeit vertrödelt? Oder ist diese Zeit eigentlich gar nicht verschwendet, sondern war eine notwendig Schleife, um etwas zu begreifen oder zu entdecken, was man sonst nicht entdeckt hätte? Glavinic beobachtet souverän die Zweifel eines Menschen, der alles kann und doch so unsicher ist.

Nachdem Jonas dieses verrückte, surreale Leben geführt und nicht nur Gutes getan hat, seine große Liebe gefunden und wieder verloren hat, bleibt nichts anderes, als der Superlativ: Die Besteigung des höchsten Berges der Welt, die auch beim Lesen manchmal quält. Die Sprache, die Glavinic dafür gefunden hat, ist aber fesselnd und mitreißend, sodass das Lesen trotz einiger kleiner Hänger amüsant und abwechslungsreich ist, bis der Spannungsbogen in einen elliptischen Reigen mündet.

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Glavinic, Thomas: Das größere Wunder. Roman. Carl Hanser Verlag, München, 2013, 523 Seiten, 22,90 Euro.

/Dorothea Dicke/

 Quelle des Beitragsbildes: www.welt.de

Bilderquelle: www.amazon.de; www.spiegel.de; www.paradiso.de