Munro – oder die Lust am Erzählen

Autor: Katharina Deppe

Zeitung: 2013/2

Rubrik: Kultur

„Sie [ihre Tochter] rief an und sagte: ‚Mama, du hast gewonnen!‘ Ich war ganz durcheinander und sagte: ‚Was habe ich gewonnen?‘ Erst dann kam ich zu Sinnen.“ So erinnert sich Alice Munro an den Moment, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass sie als 13. Frau seit 1901 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt werden soll.

In der Begründung der Jury des wichtigsten Literaturpreises der Welt heißt es, sie sei „eine Virtuosin der zeitgenössischen Novelle“. Weltweit wird sie für ihre mittlerweile dreizehn Erzählbände und einen Roman gefeiert, der Jury-Sprecher Peter Englund sagt, sie habe „Die Kurzgeschichte zur Perfektion gebracht“ und könne auf 30 Seiten mehr sagen als andere Autoren auf 300.

Doch trotz des großen und zweifellos verdienten Erfolges: Weshalb ist die kanadische Autorin für GeMa interessant? Neben der großen Begeisterung, die die 82-Jährige in Deutschland auslöst, ist ein wichtiger Aspekt, dass sie eines der meistgenannten Vorbilder für junge deutschsprachige Autorinnen ist und somit einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die deutsche Literaturwelt hat.

Was die Kurzgeschichten von Munro so faszinierend macht, sollte anhand des Werkes „Zu viel Glück“, das 2011 in deutscher Sprache erschien, herausgefunden werden. Das Buch beinhaltet zehn Erzählungen, die auf 363 Seiten präsentiert werden. Fast alle Geschichten spielen in Kanada, genauer in Ontario in der Nähe von Toronto, wo die Autorin selbst geboren wurde und heute lebt.

Im Jahr 2006 sagte Munro in einem ZEIT-Interview: „|[…] Das Glück ist komplizierter. Glück ist harte Arbeit.“ Diese Sätze bewahrheiten sich in jeder einzelnen der zehn Geschichten, denn immer geht es darum, die richtige Balance zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig des Glücks zu finden, was sich als nahezu aussichtslos herausstellt. Die Protagonisten sind sehr unterschiedlich, mal ist es eine junge Studentin, mal eine Frau mittleren Alters, die in einem Hotel als Zimmermädchen arbeitet oder ein Mann, der sich als Schreiner und Holzfäller selbstständig gemacht hat. Den Geschichten gemeinsam ist, dass zum einen schicksalhafte Situationen geschildert, zum anderen aber auch immer wieder größere Lebenszusammenhänge erläutert werden. Es gibt zwei Merkmale, die das Leseerlebnis besonders intensiv werden lassen: Zum einen, dass zu Beginn einer Geschichte nie klar ist, worauf es hinaus laufen wird, nie weiß der Leser, was ihn erwartet. Zum anderen sind es die minimal gehaltenen Situationsbeschreibungen, die den Fokus auf das lenken, was gerade nicht gesagt wird, sodass man „sich seinen Teil denken muss“.

In der ersten Geschichte „Dimensionen“ etwa geht es um die Hotelangestellte mittleren Alters, die jemanden in einer geschlossenen Psychiatrie besucht. Nie wird explizit gesagt, dass die Person, die sie da sehen möchte, ihr Mann ist, der die gemeinsamen Kinder umgebracht hat. Doch durch die vielen Beschreibungen von scheinbar belanglosen Momenten werden dem Leser die Zusammenhänge allmählich klar. Gerade Munros Blick für das Detail ist bei derartigen Sequenzen bewundernswert.

In einer anderen Geschichte, „Kinderspiel“, geht es um eine Frau, die sich an ihre Kindheit zurück erinnert. Sie kannte ein geistlich beeinträchtigtes Mädchen, Verna, das ihr unheimlich war. In einem Feriencamp passiert es: Zusammen mit einer Freundin, die sie dort gefunden hatte, ertränken sie das Mädchen beim Baden. Damals waren die Kinder sich nicht darüber im Klaren, was sie taten. Sie sahen sich danach nie wieder. Erst, als die Protagonistin schon fortgeschrittenen Alters ist, holt sie die Vergangenheit wieder ein, denn sie bekommt von der kranken, ehemals guten Freundin per Brief eine Aufgabe.

Die längste und letzte Erzählung ist „Zu viel Glück“, die in mehrerlei Hinsicht etwas Besonderes ist. Sie ist eine der wenigen Erzählungen, die ihren Schauplatz in Europa haben, sie trägt den Titel des gesamten Werkes und ist in fünf Kapitel unterteilt. Die Hauptfigur ist Sofia, eine russische Mathematikprofessorin Ende des 19. Jahrhunderts, die in Schweden, genauer in Stockholm lehrt. Erzählt wird von ihrem Verlobten Maxim, wie sie zur Mathematikprofessorin wurde, wie sie den Prix Bordin für ihre Arbeit erhielt, von ihrer Zeit in Paris, von ihrer Schwester. Sie befindet sich auf ihrer wortwörtlich letzten Reise von Frankreich und ihrem Verlobten zurück nach Schweden, wo sie dann infolge eines Lungenleidens und einiger anderer Erkrankungen stirbt, bevor sie ihren Maxim heiraten kann. Eine gute Freundin meint von der Sterbenden den Satz „Zu viel Glück“ vernommen zu haben.

Wie zum Beispiel in dieser letzten Erzählung deutlich wird, begeistert sich Munro vor allem für die Schicksale von Frauen, weshalb sie sich selbst als „Feministin“ bezeichnet. In der Tat unterscheidet sich ihr Werdegang und ihr Leben von dem eines „prototypischen männlichen Schriftstellers“, war sie doch immer auch für die Kinder und den Haushalt verantwortlich, was unter anderem aus praktischen Gründen dazu führte, dass sie vor allem die Form der Kurzgeschichte wählte. Auch ihr 2013 erschienenes Werk „Liebes Leben“ umfasst Erzählungen.

Was beim Lesen von „Zu viel Glück“ immer wieder deutlich wird, ist, wie viel Spaß die Autorin auch nach 40 Jahren noch beim Erzählen hat und ich rate dringend dazu, sich beim Lesen von dieser Lust anstecken zu lassen!

 

/Katharina Deppe/

Hier geht’s zum aktuellen ZEIT-Artikel über Munro und dem vollständigen Interview von 2006:

http://www.zeit.de/kultur/literatur/2013-10/nobelpreis-fuer-literatur-vergeben

http://www.zeit.de/2006/13/L-Munro-Interv_/seite-5

Quelle des Beitragsbildes: www.wz-newsline.de