Dankesrede

Autor: Detlef Haberland

Zeitung: 2013/2

Rubrik: Germanistik

Die Redaktion des Germanistischen Magazin freut sich, die Dankesrede von Herrn Prof. Dr. Detlef Haberland bei der Verleihung der Auszeichnung Pro Facultate Philosophiae am 6. November 2013 veröffentlichen zu dürfen!

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Spektabilität!

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen und ungarische Freunde!

Gestatten Sie mir, dass ich meine kleine Rede mit einer Erinnerung beginne, denn es ist wohl nichts natürlicher, dass in einem solch feierlich-schönen Augenblick die Gedanken zurückschweifen. Das erste Mal vor elf Jahren fuhr ich mit dem Zug nach Szeged. Noch etwas müde von der Reise von Bonn über Wien und Budapest sah ich entspannt in die herbstliche Puszta hinaus, entspannt, weil ich noch gar nicht wissen konnte, was mich erwarten würde. Und da, auf einmal, tauchten die Türme des Szegeder Doms wie spitze Nadeln aus dem weichen Grün und der beginnenden Färbung der Landschaft auf. Ich war auf einmal hellwach. Und von diesem Moment an war es jedes Mal eine freudige Spannung, die mich etwa ab Kecskemét begleitet: Wann sehe ich die Türme des Doms von Szeged? Und wenn dieser Augenblick da ist, weiß ich: Gleich bin ich zu Hause.

Dem literarischen Meister der Erinnerung, Marcel Proust, verdanke ich durch eine Passage seines Romans Le Temps retrouvé das Vorbild für diesen erregenden Augenblick: „dans ma distraction je n’avais pas vu une voiture qui s’avançait; au cri du wattman je n’eus que le temps de me ranger vivement de côté, et je reculai assez pour buter malgré moi contre des pavés assez mal équarris derrière lesquels était une remise. Mais au moment où me remettant d’aplomb, je posai mon pied sur un pavé qui était un peu moins élevé que le précédent, tout mon découragement s’évanouit devant la même félicité qu’à […] la saveur d’une madeleine […] tant d’autres sensations […] m’avaient paru synthétiser.“ („Ich hatte in meiner Zerstreuung nicht bemerkt, daß ein Wagen sich näherte; beim Anruf des Chauffeurs hatte ich nur gerade noch Zeit, rasch auf die Seite zu springen. Ich wich so weit zurück, daß ich unwillkürlich auf die schlecht behauenen Pflastersteine trat […]. In dem Augenblick aber, als ich wieder Halt fand und meinen Fuß auf einen Stein setzte, der etwas höher war als der vorige, schwand meine ganze Mutlosigkeit vor der gleichen Beseligung dahin, die mir […] der Geschmack einer Madeleine […] sowie noch viele andere Empfindungen [geschenkt hatten])“.[1]

Und eben dieser Moment, in dem die Türme Szegeds aus der Puszta auftauchen, bewirkt, dass Abspannung, Reise-Melancholie oder leise Zweifel wie weggewischt sind und einer freudigen Erwartungsstimmung Platz machen. Und noch bislang jedes Mal ist dies so gewesen.

Aber meine Erinnerung reicht noch viel weiter zurück. Als ich als Junge bei den Pfadfindern war, sangen wir das Lied von dem Blankenstein-Husar, der in das „schöne Ungarland“ zieht; in dessen Refrain es unter anderem heißt: „Dunja, Dunja, Dunja, Tissa, bass mederem trem kordija“. Dies waren mir damals vollkommen unentschlüsselbare Worte. Aber als mir dann eine ungarische Kollegin, die ich auf einer Tagung traf, sagte, sie käme aus Szeged, das an Tisza und Maros läge – da war für mich blitzartig klar, dass keine andere Universität für eine DAAD-Dozentur in Frage käme. Diesen Ort wollte ich sehen! Und so verwandelte sich das Ungarn meiner „Kinderphantasie“ in Wirklichkeit,[2] so wie das für Franziska aus dem Roman Graf Petöfi von Theodor Fontane geschieht – für mich allerdings ohne die Unglück verheißenden Vorzeichen.

Aus den Bildern und Reminiszenzen wurde dann Universitäts-Alltag, wenn auch nur kurz. Aber: Ich habe hier bei Ihnen stets eine generöse Aufnahme und eine anregende akademische Heimat gefunden und inzwischen zu so vielen Kolleginnen und Kollegen Kontakt und mit ihnen Austausch, dass ich sie alle gar nicht nennen kann. Nur einen möchte ich stellvertretend für alle an dieser Stelle erwähnen: Es ist mein germanistischer Kollege, Herr Professor Dr. Árpád Bernáth, der meine ersten ungarischen Schritte durch seine Gutachten erst möglich machte, mich auf ihnen begleitete und mir das Gefühl gab, unbedingt willkommen zu sein.Und er inspirierte mich nicht zuletzt durch seine Forschungen zu einer neuen Böll-Lektüre. Vielen Dank, lieber Herr Bernáth!

In diesem Institut, in dieser Fakultät habe ich alles das gefunden, was man sich als Dozent wünschen kann: Es waren und sind interessierte, aufgeweckte Studierende, die ich in die komplexe Materie der barocken Lyrik einführte oder mit denen ich nach meinen Veranstaltungen oder Vorträgen diskutierte; es war mir eine Freude, den Besten von ihnen zu helfen und Mut zu machen für die Teilnahme am Nationalen Studentenwettbewerb. Und es war stets ein Gewinn, hier internationale Tagungen durchzuführen: Ich will hier jetzt nicht von den Ergebnissen sprechen, diese sind in den Tagungsbänden nachlesbar, die in Deutschland wie im östlichen Europa bereits ein Echo gefunden haben. Nein, es ist darüber hinaus eine entscheidende menschliche Bereicherung, von der Vorbereitung bis zur Abrechnung (ja, auch das muss ja immer sein!) nicht eine einzige Unstimmigkeit oder einen Grund für einen Missklang zu erleben. Die Hermann-Hesse-Tagung im letzten Jahr mit 27 Teilnehmern aus aller Herren Länder war nicht nur für uns Organisatoren, sondern auch für die angereisten Kollegen ein wundervolles Erlebnis, das sie, wie mir die Mails bestätigen, nicht vergessen werden: Das Ergebnis einer reibungslosen, weil fachlich begründeten und freundschaftlich motivierten Kooperation.

Aber, sehr geehrter Herr Dekan, meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Moment heute ist nicht nur einer der Rückerinnerung. Nein, meine Gedanken gehen auch und vor allem nach vorn. Wir alle in Europa leben in schwierigen Zeiten. Wir alle haben mit Geld- und Stellenknappheit zu kämpfen, und überall werden Mittel beschnitten. Die Konkurrenz ist groß. Und nicht zuletzt: Unsere goldene globale Freiheit ist zwar immens, aber sie bedeutet gerade für die Geisteswissenschaften ein riesiges Problem. Das Problem heißt: Informationstechnologie und ihre Folgen. Auch unsere Fächer werden an dem Maßstab des „Immer schneller“, „Immer mehr“, „Immer effektiver“ gemessen, ohne dass bedacht wird, dass Kreativität und Denken sich nicht programmieren lassen wie eine Festplatte.

Wir als Wissenschaftler leben daher in einer doppelten Spannung: Einerseits ist es unser lebendiges Interesse und unsere Pflicht, wichtige Kulturtraditionen aus den vor-elektronischen Epochen zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln. Andererseits geht dies nicht ohne die aktuellen Medien und elektronischen Hilfsmittel, die leicht glauben machen, dass mit einem Mausklick Ergebnisse gezaubert werden können.

Sie hier in Ungarn wissen aus jahrhundertelanger historischer Erfahrung, was es heißt, die eigene Kultur unter schwierigen Bedingungen zu pflegen und weiterzuentwickeln, während dies in anderen Regionen Europas vielleicht zuweilen etwas leichter schien. Heute befinden wir uns als Geisteswissenschaftler jedoch alle „im gleichen Boot“.

Wir können uns gegenüber den Ansprüchen einer Gesellschaft, die glaubt, ohne die Kulturwissenschaften auskommen zu können, nur durch enge Kooperation, durch profilierte Projekte und mit Hartnäckigkeit durchsetzen. Dazu bedarf es des fachlichen und kollegialen Schulterschlusses. Die Offenheit Europas macht uns dies jetzt leicht, Kommunikationswege jeder Art sind schnell. Es wäre gut, wenn wir mit diesem Pfund noch intensiver als bisher wuchern würden.

Wenn ich eben sagte, dass ich vor allem nach vorn schaue, dann meine ich folgendes: Ihr Preis ist mir Ansporn dazu, mich weiterhin an der Philosophischen Fakultät Ihrer Universität zu engagieren und grenzüberschreitend zu versuchen, einen noch weiteren Wirkungsrahmen zu erreichen. Die Voraussetzungen sind in doppelter Hinsicht hervorragend: Die Kolleginnen und Kollegen haben internationales Niveau, und uns verbindet langjährige Freundschaft und eine eingespielte Kooperation, durch die ein großes Vertrauen auf beiden Seiten gewachsen ist.

Das sind Vorteile, die sofort in ein gemeinsames Gespräch eingebracht werden können, ohne dass es umständlicher Vorbereitungen bedürfte. Und daher kann ich Ihnen sagen, dass ich mich nicht nur freue, heute hier bei Ihnen zu sein, um diese wundervolle Auszeichnung entgegennehmen zu dürfen, sondern auch, um diese Tage zur Planung weiterer Kooperationen hier zu verbringen.

Dabei entspricht ein Wort eines Ihrer wundervollen Schriftsteller genau meiner Haltung. Sándor Márai sagt an einer Stelle: „Das Schicksal kommt nicht unerkannt zu uns, sondern wir öffnen ihm die Tür und lassen es hinein.“ Mit diesem Impetus stehe ich heute vor Ihnen und hoffe und wünsche sehr, dass ich das Schicksal in Form von zahlreichen weiteren Begegnungen hereinlassen kann, so dass uns noch viele Jahre fruchtbaren Zusammenarbeitens vergönnt sind.

Vielen Dank!



[1] Insel-Ausgabe: Wiedergewonnene Zeit, Bd. 2, S. 267f.

[2] 79, RUB