Ein Bericht über ein internationales Projekt
Geschichten – die eigene oder die der anderen – erzählen kennt jeder. Geschehenes in Worte zu fassen kann Spaß machen, unterhalten, erziehen, therapieren. Vier Szegeder Germanistikstudierende nahmen Ende Sommer an einem EU-Seminar in Deutschland teil, um Geschichten mithilfe anderer Medien zu erzählen. Sie, die sich „berufshalber“ mit Sprache und Text befassen, bedienten sich der Gattung Kurzfilm. Sie erzählen darüber – nun wieder in Worten.
Unsere Reise begann an einem heißen Sommernachmittag. Mit dem Zug fuhren vier GermanistInnen los, um ihr Heimatland für zwei Wochen zu verlassen. Wir wussten, dass diese Reise etwas Spezielles werden würde…
Vom 26. August bis 6. September fand in einem deutschen Dörflein ein internationales Jugendcamp mit dem Titel „Capture your life” statt. Fünf Länder wurden durch je eine Gruppe Jugendlicher repräsentiert: Estland, Island, Bulgarien, Deutschland und Ungarn. Organisiert wurde das Programm – wie viele ähnliche – im Rahmen von „Youth in action”, einer Bewegung, die von der Europäischen Union finanziert wird.1
Unsere Unterkunft war ein Haus der Naturfreundejugend2 Thüringen in Gießübel. Das Dorf selbst ist nicht besonders groß, aber dennoch erwähnenswert. Es liegt mitten im Thüringer Wald, die Bäume und die Berge liegen drum herum. Das einzige Wort, mit dem es bezeichnet werden kann, ist ruhig. Vielleicht nicht während der Zeit des Camps…
Es wurden verschiedene Programme organisiert, damit wir neben der Arbeit auch viel Spaß haben konnten. Im Rahmen einer Gießübel-Rally hatten wir die Chance, das ganze Dorf zu entdecken. Singen am Lagerfeuer, eine Karaoke-Nacht, internationale Abende mit kulinarischen Erlebnissen, Capture the flag im Thüringer Wald, das alles und noch viel mehr bleibt ein Stück unserer schönen Erinnerung.
Wir lernten verschiedene Kulturen kennen, Menschen, die eine andere Lebensweise, andere Gedanken haben als wir. So konnten wir auch unsere Sprachkenntnisse vertiefen: Sowohl im Englischen als auch im Deutschen. Offiziell wurde im Camp nur Englisch gesprochen, auch die von uns kreierten Filme wurden in dieser Sprache gedreht oder mit Untertiteln versehen. Es war für uns außerdem etwas Ungewöhnliches, dass wir unsere Sprachverwandten aus Estland treffen konnten. Obwohl nicht vieles mit dem Ungarischen übereinstimmt, haben wir bei einigen Wörtern doch schon Ähnlichkeiten bemerkt. Als Philologen können wir dies auf eine besondere Art schätzen.
„Capture your life” – der Name soll für „Digital storytelling” stehen. Und was ist das eigentlich? Im Programmheft steht die Erklärung: Eine digitale Story sei ein kleiner Film, in dem eigene Erfahrungen und biographische Ereignisse präsentiert und aufgearbeitet werden. Man nehme eigene Fotos, Ansichtskarten, Zeichnungen, ein gutes Sujet, eine Tonaufnahme – und fertig ist die digitale Story.
Die Storys waren beinhalteten verschiedenste Themen: Passionen, familiäre Ereignisse, lebensverändernde Geschichten, also alles Intime und Innerliche. Das Ziel der Veranstaltung war, „den TeilnehmerInnen zu helfen, ihre eigene Stimme zu finden und ihrer Geschichte Gehör zu verschaffen.“* Nach den Einführungsseminaren konnte jeder mit seiner eigenen Geschichte beginnen. Die Organisation stellte uns Fachleute zur Verfügung, die sich im Bereich der Medienwissenschaften auskannten und für alles Technische sorgten. Letztendlich entstanden 16 Kurzfilme, die auch mehrmals und an mehreren Orten während der zwei Wochen aufgeführt wurden.
Die theoretische Grundlage dabei ist die sog. „Biographiearbeit“. Biographie ist „das Ergebnis eines sehr individuellen und gestalterischen Prozesses“. Sie gibt außer der Story auch die sozialen Umstände und die kulturelle Umgebung des Verfassers wieder. Sie ist „eine kreative Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte“ und unterstützt dadurch „die Entwicklung der Identität“. Deshalb werden meistens kritische Lebensereignisse (z. B. Verlust oder Trennung von Bezugspersonen, Krankheiten, Gewalterfahrungen), eventuell lebensgeschichtliche Brüche dargestellt. Als Themen kamen auch sog. normierte Umbruchsituationen vor: Das sind Ereignisse, „die im Lebenslauf durchaus vorhersehbar sind“, z. B. der Auszug aus dem Elternhaus, der Schulabschluss oder die Familiengründung. Da diese Einwirkungen immer von außen kommen, verursachen sie eine Beschädigung der Selbstsicherheit und bedrohen dadurch die Identität.
„Man wird so oft gefragt, wer man sein will, so beruflich und so, aber es fragt eigentlich nie jemand danach, wie man zu dem Menschen geworden ist, der man ist. Das war ja auch Arbeit. Da hab ich was geleistet.“ (Maya, 19 Jahre)*
Im Laufe des Projekts haben wir erkannt, dass unsere Filme eher einem mehrdimensionalen Kunstwerk ähneln, das sowohl eine besondere Art der Poesie als auch Film- und Spielkunst in sich vereinbart. Wir hatten das Gefühl, dass wir etwas Künstlerisches und Bedeutendes geschaffen haben.
Doch über das Filmemachen hinaus war für uns auch das Camp selbst ein wichtiges Ereignis. Auch die anderen haben sehr positive Erfahrungen gemacht:
„Es war für mich ein großes Erlebnis, weil ich vorher noch nie in Deutschland gewesen war, und es war sehr gut, dass ich solche Menschen kennen lernen konnte, die aus einer anderen Kultur stammen.“ (Tünde Pető)
„Ich bin schon seit mehreren Jahren in diesem Bereich tätig, sowohl als Teilnehmer als auch als Organisator. Das Gefühl ist das Gleiche, nur die Aufgaben sind anders. Ich kann es jedem nur empfehlen, es einmal auszuprobieren.“ (Gábor Tóth)
Dank Facebook können wir seitdem noch immer Kontakt mit den anderen Teilnehmern halten. Aber nicht nur diese Beziehungen haben wir innerhalb dieser Wochen knüpfen können: Wir haben auch einander besser kennen gelernt. So haben wir auch davon, von dieser Schönheit und Güte, ein Stückchen mit nach Hause gebracht, und das ist es, was in unserem Leben wirklich zählt. Seitdem haben wir mehrmals darüber gesprochen, wie sehr wir uns nach diesen zwei Wochen sehnen: Nach der Ruhe und nach der Entspannung, die wir erleben konnten, aber auch die Freude am Schaffen. Und wer weiß? Vielleicht klappt es noch ein zweites Mal in diesem Leben.
Wenn unser Artikel euer Interesse für solch ein Programm geweckt hat, könnt ihr euch auf folgenden Webseiten informieren:
1www.eacea.ec.europa.eu/youth/
2www.naturfreundehaus-thueringen.de/unserhaus/im-herzen-der-natur.html
www.capture-your-life.de
*Zitiert aus der Broschüre „Capture your life-Digital Storytelling mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen“
/Katinka Rózsa und Balázs Kovács/