Rezension zu Herta Müllers „Atemschaukel“
Die Autorin mehrfach ausgezeichnet, das Werk umstritten, die Geschichte bitterernst, die Sprache wundersam-poetisch. 2009, im selben Jahr als Herta Müller den Nobelpreis für Literatur erhielt, erschien „Atemschaukel“, in dem vom Schicksal eines Rumäniendeutschen erzählt wird, der in ein russisches Arbeitslager („Gulag“) verschleppt wird. Ursprünglich als gemeinsame Arbeit mit dem Büchner-Preisträger und ehemaligen Gulag-Gefangenen Oskar Pastior geplant, vollendete Herta Müller das Werk nach dessen Tod im Jahr 2006 alleine und stellte sich damit der Herausforderung, die Erfahrungen aus zweiter Hand in eine Erzählung in der ersten Person umzuwandeln.
Anlässlich der Herta-Müller-Ausstellung, die noch bis zum 26. März stattfindet (http://ww2.bibl.u-szeged.hu/index.php/programok/kiallitas/1093-herta-muller-kiallitas), wird sich GeMa nun im Folgenden ausführlich mit diesem Werk auseinandersetzen.
„Es war 3 Uhr in der Nacht zum 15. Januar 1945, als die Patrouille mich holte. Die Kälte zog an, es waren -15°C.“ So beginnt die Reise des 17-Jährigen Leopold Auberg ins Ungewisse. Mitnehmen konnte der Junge aus Siebenbürgen nicht viel und das, was er hatte, war „entweder zweckentfremdet oder von jemand anderem.“ Nach einer langen und beschwerlichen Fahrt, eingepfercht in einen Viehwaggon mit anderen Deportierten, kommt er in der russischen Steppe an. Dort erwartet ihn das Arbeitslager mit dem launischen Aufseher Tur Prikulitsch, dem Schlafsaal, den er sich mit über 60 anderen Gefangenen teilen muss, der knochenharten Arbeit und dem allgegenwärtigen Hunger.
In vielen kleineren Episoden wird vom Lagerleben berichtet, von den Problemen und insbesondere dem „Hungerengel“. Die Gefangenen erhalten lediglich ein Brot und etwas Suppe pro Tag. Deswegen ist es kaum verwunderlich, dass sie mit allerlei Mitteln versuchen, an Essbares zu kommen, sei es durch das Tauschen gegen ein vermeintlich größeres Brot, Tauschgeschäfte auf dem Markt im Dorf, weggeschmissene Kartoffelschalen hinter der Kantine oder das Zubereiten von Unkraut: „Der Hunger ist ein Gegenstand. Der Engel ist ins Hirn gestiegen. Der Hungerengel denkt nicht. Er denkt richtig. Er fehlt nie. […] Er sagt, er kommt wieder, bleibt aber da. Wenn er kommt, dann kommt er stark.“
Nach und nach stumpft Leopold ab, versucht sich mit seiner Situation so gut es geht abzufinden und – zu überleben. Am härtesten ist die „Hautundknochenzeit“, der eisige Winter, wo die dürftige Kleidung nur wenig vor der schneidenden Kälte schützt und das Essen knapper denn je wird. Gleich, welches Wetter herrscht, die Gefangenen müssen in der Ziegelei, im Keller, auf den Baustellen schuften.
Nur ein Mal in diesen fünf Jahren Gefangenschaft erhält der Junge eine Nachricht aus seiner Heimat: Seine Mutter hat einen weiteren Sohn geboren. Sonst bleibt ihm nur der Satz, den seine Großmutter beim Abschied zu ihm sagte: „Ich weiss, du kommst wieder.“
Endlich, lange nach Kriegsende, darf Leopold Auberg wieder nach Hause zurückkehren. Doch anstatt freudig empfangen zu werden, wird der Todgeglaubte nur halbherzig wieder aufgenommen: „Ich wusste, dass der Schrecken größer als die Überraschung war, es war eine freudlose Erleichterung im Haus, als ich wiederkam. Ich hatte ihre Trauerzeit betrogen, weil ich lebte.“
Auch nach Ende seiner Lagerzeit begleiten ihn die dort gemachten Erfahrungen bis an sein Lebensende, genau wie dieses Werk den Leser nicht mehr loslässt.
Die Art und Weise, wie Herta Müller dieses bewegende Schicksal schildert, kann keinen Leser kalt lassen. Wie Felicitas von Lovenberg (FAZ) treffend formulierte: „Eine herzzerreißende, demütig und bescheiden machende Lektüre.“ In der Tat erreicht die poetische Sprache, die sehr reich an verschiedensten Bildern ist, gepaart mit dem bis ins Detail wiedergegeben Leid eine ganz eigene Wirkung. Doch manchmal scheint der Kontrast zwischen diesen kunstvollen Ausdrücken und dem alltäglichen, mühsamen Lagerleben zu überzogen zu sein, geradezu kitschig, wenn zum Beispiel von der „Herzschaufel“ die Rede ist oder von der Arbeit im Fabrikkeller als „Kunstwerk“.
Andererseits bringt die bildreiche Sprache dem Leser das Erzählte noch näher und man glaubt fast, sich das vorstellen zu können, was man sich eigentlich nicht vorstellen kann. Dazu tragen auch die vielen kleinen Episoden bei, in denen unter anderem von Schicksalen anderer Häftlinge berichtet wird, von deren Geschichten, deren Dahinsiechen, deren Tod. Und spätestens bei der Heimkehr, wo sich der Leser eigentlich mit dem Protagonisten freuen möchte, kommt schnell die Ernüchterung: Denn dass dies hier keine Geschichte mit Happy End ist, sondern von der harten Realität handelt, wird nur allzu deutlich, als vom schwierigen Verhältnis zu Leopolds Familie und den Problemen, im „richtigen“ Leben wieder Fuß zu fassen, berichtet wird. Gerade diese Episode ist erzähltechnisch sehr gut gestaltet und berührt den Lesenden zutiefst.
Besondere Bewunderung verdient die Autorin für das Kunststück, nur aus Erzählungen von ehemaligen Gefangenen, also anders als bei anderen Romanen von Herta Müller nicht aus selbst Erlebtem, ein Werk zu schaffen, in dem in der ersten Person so eindringlich und detailreich erzählt wird. Dass dieses Buch allerdings nichts ist, was man mal eben nebenbei lesen kann, dürfte klar sein, denn es handelt sich wahrlich nicht um „leichte Kost“.
Zusammenfassend bleibt nur zu sagen, dass dieses Werk noch einmal eindrucksvoll aufzeigt, weshalb Herta Müller den Literaturnobelpreis erhalten und verdient hat.
Müller, Herta (2009): Atemschaukel. Roman. München: Hanser. 304 Seiten.
/Katharina Deppe/
Quelle des Beitragsbildes: culturelle.asso.univ-poitiers.fr