„Man stirbt nicht so leicht, wenn man jung ist“

Autor: Katharina Deppe

Zeitung: 2013/2

Rubrik: Kultur

Rezension zu Jage zwei Tiger von Helene Hegemann

Von den einen wurde sie als Wunderkind gefeiert, die anderen sahen in ihr eine von den Medien und dem Kunstbetrieb gehypte Minderjährige. Helene Hegemanns Debütroman Axolotl Roadkill, ein Adoleszenzroman mit Schauplatz im Berliner Nachtleben, wurde durchaus kontrovers diskutiert, als er 2010 erschien. Die damals siebzehnjährige Tochter des bekannten Dramaturgen Carl Hegemann fiel zuvor schon als Schauspielerin, Bloggerin und Regisseurin auf.

Im August dieses Jahres ist nun ihr zweiter Roman Jage zwei Tiger erschienen, der den Leser in die „abgefuckte“ Welt der wohlstandsverwahrlosten und revoltierenden Jugendlichen Cecile und Kai entführt.

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Die Erzählung beginnt sehr tragisch mit dem Tod von Kais Mutter, die stirbt, als Jugendliche einen Stein von einer Autobahnbrücke werfen. Auf der Flucht vom Unfallort lernt Kai das einarmige Zirkusmädchen Samantha kennen. Was er nicht weiß, ist, dass sie eine Mitschuld an dem Unfall trifft. Er ist über Jahre hinweg in sie verliebt. Nach der Behandlung im Krankenhaus zieht der damals elf Jahre alte Junge nach München zu seinem Vater, einem nervlich instabilen Kunsthändler Mitte Vierzig, der sich und seinem Sohn seine Unfähigkeit als sorgender und verantwortungsbewusster Elternteil eingesteht.

Die zweite Protagonistin des Werkes ist die siebzehnjährige Cecile. Von Essstörungen über Ritzen bis zu Drogen hat sie schon alles durchgemacht. Sie verbrachte den größten Teil ihrer Kindheit und Jugend im Internat, in das sie ihre wohlhabenden Eltern förmlich abgeschoben hatten. Nach einem kurzen Besuch bei ihrer dysfunktionalen Familie bricht sie aus ihrem bisherigen Leben aus, nicht ohne ein Kunstwerk im Wert von einer halben Million Euro mitgehen zu lassen. Sie kommt bei einer alten Schulfreundin in Worms unter, die in einer alternativen Wohngemeinschaft lebt. Von dort aus führt ihre Reise weiter nach Italien. Auf Umwegen landet sie schließlich in München, wo sie in einer Kneipe Kais Vater kennen lernt und sich in ihn verliebt. Obwohl die Liebe nicht erwidert wird, zieht sie bei ihm ein und trifft so auf die andere Hauptfigur Kai.

Die detailliert beschriebene und faszinierende Geschichte der beiden Jugendlichen wird in einem Stil erzählt, der den Leser förmlich mitreißt und immer tiefer in die Abgründe der egoistischen und zerstörerischen Welt des Werkes führt. Dabei verbindet Hegemann provozierenden Jugendjargon voller Superlativen und Anglizismen mit einer durchaus gehobenen, in Hypotaxen präsentierten Sprache, die zwar sehr übertrieben, aber mindestens ebenso interessant und unterhaltsam zu lesen ist.

Besonders bemerkenswert ist ihre Beobachtungsgabe, mit der sie die Erwachsenenwelt aus der Perspektive der Jugendlichen sehr treffend beschreibt und analysiert. Der Ausschnitt „Es ist an dieser Stelle fast unnötig zu erwähnen, dass Cecile zu den weniger durchgeballerten Charakteren in diesem Roman gehört, aber sehr sympathisch ist. Und ja, scheiße, apropos Roman“ (Seite 94) zeigt prototypisch allerdings zwei Tendenzen, die die Erstklassigkeit von  Hegemanns Roman etwas einschränken: Zum einen das übermäßige Abschweifen von der eigentlichen Geschichte und zum anderen den Drang der jungen Autorin, alles zu kommentieren und zu erklären, was in der erzählten Welt vor sich geht. Das führt zwar einerseits zu bemerkenswerten Gedankengängen und Statements wie Folgendem: „Man denkt, weil man weiß, wie schnell etwas kaputt gehen kann, und nicht unbedingt, weil man ein ernsthaftes emotionsfreies Interesse an Mesopotamien hat“ (Seite 127). Andererseits nimmt die Erzählerin den Leser aber zu sehr bei der Hand und lässt wenig Freiraum für eigene Interpretationen.

Die Handlung im größeren Kontext ist aber kaum vorhersehbar, was vor allem am Ende deutlich wird: Die Erzählstränge verdichten sich, Kai und Cecile flüchten, damit der mittlerweile 15-Jährige sein Zirkusmädchen Samantha wiedertreffen kann. Dann heiraten allerdings nach einer unerwarteten Wendung die beiden Protagonisten und spätestens da denkt sich der durch diese verwirrende, verstörende, aber überaus unterhaltsame Welt geführte Leser ganz im Stile des Buches: „What the fuck?!“.

Hegemann, Helene: Jage zwei Tiger. Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag, München, 2013, 320 Seiten, 19,90 Euro

/Katharina Deppe/